Kosmas Kosmopoulos’ deutsch-griechische Jugendarbeit gerinnt in den Uferstudios zu einem überraschenden Tanzstück.
Rauscht das Meer oder der Verkehr? Oder geht das eine in das andere über? Der Sound, den Antonios Palaskas über den ersten Teil von in „CAPTURE & discard“ legt, ist ein Hybrid zwischen Natur- und Technikgeräusche. Bei jedem Versuch, den Klang eindeutig zuzuordnen, entzieht er sich wieder. In dem einen Moment überschlägt sich ein Wellenkamm, im anderen rauscht ein Lastwagen durch Regen. Aber der unbestimmbare und doch in Teilen antizipierbare Rhythmus bleibt beständig – je länger er andauert, desto anstrengender wird er. Wie unberührt davon schwanken nach und nach fünf Gestalten auf die Bühne. Ihr durch Schattenwürfe vervielfältigter Körper scheint bestimmten Luftdruckgesetzen zu gehorchen und sich um die eigene Vertikale herum auszutarieren, während ein Arm wie von außen angehoben sich der Horizontalen annähert. In helle Leinen- und Baumwoll-Garderobe gekleidet, die Hemden schräg zugeknöpft und über den Kopf eine dünne Strumpfmaske gestülpt, wirken sie wie eine Mischung aus Gespenstern und wandelnden Vogelscheuchen, aus Totem und Mumie – ohne jedoch eine allzu geheimnistuerische Mystik heraufzubeschwören.
„CAPTURE & discard“, wörtlich übersetzt „Erfassen und Verwerfen“, steht hier, um den Abendzettel zu paraphrasieren, für den Anspruch, alle individuellen Eigenschaften über Bord zu werfen, um dann auf einer in dieser Hinsicht ballastfreien Insel von vorne anfangen zu können. Reset. Die Choreografie ist eine Überraschung. Sie stammt von Kosmas Kosmopoulos, einem PARTS-Absolventen der ersten Stunde, der in den letzten Jahren vor allem im Schul- und Ausbildungsbereich gearbeitet hat. Seit 2014 hat er sich auch für das auf Bundesebene initiierte deutsch-griechische Jugendwerk engagiert, das zur Beziehungsreparatur zwischen den beiden Ländern gegründet wurde. Aus diesem Zusammenhang ist später – jedoch auf Eigeninitiative – das aktuelle Stück mit vier jungen griechischen Tänzer*innen und einer deutschen entstanden. Unter „pädagogisch wertvoll“ ist es jedoch ganz bestimmt nicht kategorisieren. Oftmals ist es das Problem von Künstler*innen, die pädagogisch tätig sind, eine allzu anwendungsfreundliche Fantasie zu entwickeln. Wenn hier jedoch irgendetwas mit pädagogischer Arbeit in Verbindung gebracht werden könnte, dann positiv: die Klarheit im Gebrauch der Mittel.
Im Bezug auf die Bewegung ist Kosmopoulos’ Stück im ersten Teil hauptsächlich eine gesteuerte Gliedmaßenerkundung, im zweiten ein Wechselspiel von Fliehkräften und Gravitation. Nachdem die Fünfergruppe sich erst einmal frontal sowie jede einzelne Tänzerin sich wie ein Schiffsmast an der Horizontalen ausgerichtet hat, werden jeweils Hand, Arm, Fuß und Bein bewegt. Nach und nach geht es von Gelenk zu Gelenk, nach außen, nach innen, in alle Richtungen. Einerseits wirkt das willkürlich, andererseits entstehen Ähnlichkeiten, die dahinterliegende Fokussierungen vermuten lassen. Die Armbewegungen, die rhythmisch und motorisch ausziseliert sind, wirken wie Zeichensprache ohne Zeichen, Schattenspiele ohne identifizierbare Figuren, während die Beine die Bewegungsdynamisierung zu volkstanzähnlichen Schritten nutzen. Im Zusammenspiel wechseln sich Eindrücke von Selbstgeißelung, Kampfenergien und onomatopoetisch wirkende Bewegungsplaudereien ab. Immer jedoch bleibt der Tonus des Körpers weich und durchlässig, selbst wenn der Bewegungsduktus aggressiver wird. Der Duktus, der daraus entsteht, ist eher der eines vegetativ auf Einflüsse Reagierens als willentlichen Agierens.
Während im zweiten Teil jedoch ein anderes choreografisches Material zum Einsatz kommt, greift der Sound das Prinzip des Anfang wieder auch, indem er jetzt schreiähnliche Laute zum Sturm anschwellen lässt. Vor allem dadurch, dass sich Sequenzen mit räumlichem Echo und ohne abwechseln, alternieren die Soundscapes in der Wahrnehmung erneut zwischen verschiedenen möglichen Referenzen. Deutlich werden die Körper nun vom Sturm aus den Boxen ergriffen, über kurze Strecken mitgerissen und wieder Schwer- und Kollisionskräften übergeben. Wenn die vom Fallen müden, keuchenden Körper es schließlich aufgeben, sich gegen die Schwerkraft zu stemmen, der letzte Wille sich aufgebäumt hat, könnte dieses Stück über auf Ähnlichkeiten reduzierte Wesen eigentlich zum Ende kommen. Aber da setzt Kosmopoulos noch einmal nach und stiftet gleich zweimal Verwirrung.
Die auf die Erde gekrümmten Tänzerinnen entkleiden sich nun bis auf die hautfarbene Unterwäsche – nicht nur vor dem Publikum sondern auch vor dem etwa doppelt so alten Männerteam, das von außen Choreografie, Sound und Licht steuert. Diese Konstellation wirkt nach einem blinden Fleck im Konzept. Wie einen Kokon lassen die Tänzerinnen ihre Kleider liegen und verlassen die Bühne, während ein wiederum männlicher Helfer ihre abgestreiften Hüllen einsammelt und ihr zuletzt hastiges Atmen in Samples verlängert wird. Als sie schließlich wieder erscheinen, sind sie nicht Schmetterlinge sondern in Alltagskleidung steckende Zombies mit blutunterlaufenem rechten Auge. Huch! Ein bisschen Punk ein bisschen Rätsel. Eine Serialität an Blessuren, die Menschen auf ihre Umstände reduziert? War es der Wind oder das himmlische Kind? (Hoffentlich nicht Deutschland gegen Griechenland?) Wie auch immer: Der Epilog wirkt in seiner plötzlichen Theatralität etwas dick aufgetragen, auch wenn seine Rätselhaftigkeit durchaus belebt.