„Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, A.T. De Keersmaeker © Herman Sorgeloos

Rosas Danst Rilke

Ihrer langen Liebe zu Rilkes „Cornet“ frönt Anne Teresa De Keersmaeker am HAU1

“Reiten, Reiten, Reiten”: Mit Tempo prescht Rilke in seine 1899 entstandene Erzählung “Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke”. Vom heldenhaften Schlachtentod des titelgebenden Fahnenträgers berichtet der Text, in 26 lyrisch-expressiven Prosaminiaturen. “Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß. Es gibt keine Berge mehr, kaum einen Baum. Nichts wagt aufzustehen”, heißt es zu Beginn. Stumpfsinnig und niederdrückend ist der lange Ritt gen Feind im Österreichischen Türkenkrieg 1663/64. Zarte Männerfreundschaft entsteht und Muttersehnsucht schmerzt, dann bricht das Leben sich noch einmal Bahn, im quirligen “Tag durch den Tross” und auf einem rauschhaften Fest. Dessen Nacht verbringt der Cornet geborgen-innig mit einer Gräfin, bevor er sich aus dem brennenden Schloss so todesmutig wie todesgewiss ins Feindesgetümmel stürzt – ein Schluss, der Rilkes berühmteste Erzählung zur Weltkriegspropaganda tauglich machte.

Mal eruptiv, dann wieder versonnen ist der Text, den Rilke als einen Parforceritt durch die geschilderten Ereignisse gestaltet. Überschäumende Emotionen, die geradezu in Bewegung drängen, kennzeichnen die einzelnen Miniaturen; immer wieder setzt Rilke neu an, lässt einen Abschnitt geradezu aphoristisch in einem Bild oder einer Erkenntnis kulminieren, um dann einen fast abgrundtiefen Absatz einzuziehen und die lineare Vorwärtsbewegung des Lesens bis zur nächsten Binnenepisode zu stoppen. Riss um Riss geht durch diese literarische Welt…

Vorwärtsstürmen und Innehalten: Dieser markanten Textbewegung ebenso wie ihrer langen Liebe zu Rilkes “Cornet” zollt Anne Teresa De Keersmaeker Tribut bei ihrem Gastspiel am HAU Hebbel am Ufer (UA: Ruhrtriennale 2015). Prologisch vollzieht das eröffnende Solo von Duo-Partner Michaël Pomero die literarische Binnenbewegung aus Tempogeben und Pausieren nach. Weniger stürmisch als man sich Rilkes jungen Soldaten vorstellt und den Text erlebt, eher entschlossen tritt der Tänzer an die Rampe – und stürzt sich dann doch unvermittelt in eine leitmotivische Sequenz aus Fallen und Verharren, prekär balancierend die Glieder aufgespannt in einander widerstrebenden Raumrichtungen. Unter seinen Stiefeln staubt es. Das ausgestreute Weiß, kreideartig und steinig, spritzt den Zuschauern in der ersten Reihe ins Gesicht. Der Staub ist bei Rilke eine wesentlicher Begleiter auf dem langen Ritt. Und zur ansonsten karg und streng wirkenden Inszenierung steuert er einige Körnchen Sinnlichkeit bei.

Gewaltsame Rupturen sind das wesentliche Gestaltungsmerkmal von De Keersmaekers Rilke-Adaption. Die wie zerrissen wirkenden, eingefrorenen Posen, der momentweise stockende, dann wieder gebundene Bewegungsfluss erinnert an Rilkes unstete Textbewegung und die Reihung literarischer Kulminationspunkte. Musikalisch steuert die Flötistin Chryssi Dimitriou Fragmentarisches bei: Nichts als abgehacktes Fauchen und Zischen bleibt von Salvatore Sciarrinos ohnehin mit Pausen und Andeutungen operierender “Opera per flauto” übrig. Stoßweise bläst Dimitriou die Luft in das Metallrohr ihrer Querflöte, verharrt, setzt jäh neu an – auch hier finden Text und Inszenierung eine strukturelle Entsprechung.

Auch die Rezeptionshaltung der Zuschauenden wird erst einmal abrupt unterbrochen: Gleich nach Pomeros Prolog wird die weiße Bühne schlagartig schwarz. Auf der Rückwand leuchtet in hellen Lettern Rilkes Text auf. Bis Miniatur Nummer 11 nehmen wir Zuschauenden eine Lesehaltung ein, erst dann beginnt parallel zur Textprojektion wieder das Bühnengeschehen. Irgendwann findet De Keersmaeker zur Stimme und ‚tanzspricht‘ Rilkes Text, in glasklarem Deutsch, hörbar mit kundiger Hilfe rhythmisiert – das Gesicht deklamatorisch ans Publikum gerichtet, der Körper auf anderer Ebene mit dem Vorgetragenen befasst. Eine fühlbare Trennung zwischen Text und Tanz, Körper und Klang bleibt, aller Annäherung zum Trotz. Nur als beim “Tag durch den Tross” sich “Flüche, Farben, Lachen” mischen und “bunte Buben gelaufen” kommen mit alliterativem “Raufen und Rufen”, da beschleunigen sich Sprechen und Bewegen in einem rauschhaften Taumel – die Künste werden eins.

Allzu gleichförmig erscheint irgendwann De Keersmaekers Immer-Neu-Ansetzen mit jedem der kurzen Paragraphen – es fehlt ihrem Vortrag der große Bogen, das die übergreifende Narration gestaltende denkende Sprechen, das vielleicht im Vermögen von Schauspiel-Expert*innen liegen würde. Illustrativ wirken die Bewegungen mitunter: Schwärmt der Cornet von den breiten eichenen Betten im Schloss, balanciert De Keersmaeker auf Zehenspitzen im Ausfallschritt – und öffnet die Beine ruckartig noch weiter, als von der Ackerfurche die Rede ist, die unterwegs als Nachtlager dient und sich anfühlen wie ein klaffendes Grab. Mit derartigen motivischen Bewegungsbezügen, bleibt diese Rilke-Reminiszenz letztlich erstaunlich konventionell.