„Yeki bud yeki nabud“, Modjgan Hashemian © Esra Rotthoff

Ungelebte Möglichkeiten

Im Rahmen der Performance-Reihe „Mythen der Wirklichkeit“ präsentiert die Choreografin Modjgan Hashemian mit „Yeki bud yeki nabud“ eine kritische wie berührende Auseinandersetzung mit der Geschichte des Iran.

Iranische Märchen beginnen mit dem Satz, der Titelgeber dieses Abends ist. “Yeki bud yeki nabud” (es gibt jemanden, es gibt niemanden), heißt es irgendwann am Anfang der Performance; “außer Gott war niemand da”, wird dieser Satz fortgeführt, der, als alte, schnarrende Tonaufnahme eingespielt, wie eine Überschrift in den Raum geworfen wird. Die Frauenstimme auf dem Band erzählt von zwei Fischen, Mutter und Kind. Sie schwimmen im Bach auf und ab, doch das ist auf Dauer langweilig. Gibt es nicht noch etwas anderes als den Bach?, fragt das Kind, gibt es nicht mehr?

Dieses Motiv des Mehrwollens ist Taktgeber der Choreografie-Collage, die ein Panorama des Iran zeichnet, das historisch voraussetzungsreich ist, ohne ausschließlich diese Lesart anzubieten. Die allgemeine Anschlussfähigkeit dieser vielschichtig strukturierten Performance entsteht vor allem durch jene Sequenzen, in denen Hashemian zusammen mit Kaveh Ghaemi tänzerisch und bewegend menschliche Konflikte gestaltet – eindrücklich musikalisch begleitet werden sie von Roozbeh Mosleh am Klavier und an der Santur, einem persischen Zupfinstrument.
So sehen wir zu Beginn die beiden Performer*innen (in schwarzen Overalls mit transparentem Oberteil) in einem Holzrahmen, der in etwa die Ausmaße eines Sandkastens hat, langsam miteinander in Kontakt kommen. Mit ihnen in dem Rahmen befinden sich kleine Kästen, oder vielleicht Schubladen, die in die Interaktion eingebunden werden und sowohl Hindernis als auch Hilfsmittel sein können. Daraus entsteht eine bildhafte Optik, die sich wie eine Fotografie vor das Auge schiebt. Als schließlich beide sich aufrichten, liegt der große, sie einfassende Rahmen auf ihren Schultern und es ist sichtbar, dass das Austarieren des Fremdkörpers durch die Tänzer*innen zum Balanceakt gerät. Sind die beiden hier noch als Verbundene zu sehen, erleben wir sie zu einem späteren Zeitpunkt in Zweikämpfe verwickelt. Während Ghaemi nun auf einem der kleineren Rahmen sitzt, versucht Hashemian (übrigens auch mit Schnurrbart) sich daneben zu setzen, scheitert allerdings an seinen breit ausgestellten Beinen. Diese Situation erinnert an Szenarien in der U-Bahn, sie deutet auf die Aushandlung der Geschlechterrollen, ohne dabei klischiert zu erscheinen – im Gegenteil: die Choreografie fußt auf genau beobachteten Erlebnissen. Das gegenseitige Bewegen, das aus den Impulsen des Gegenübers heraus eine eigene Bewegung ableitet, aber auch die Einstimmigkeit im Unisono sind dynamisch und zeigen eine komplexe Beziehung, die dem Publikum Berührungspunkte bietet.

Zwischen den Bewegungssequenzen erklingen die Stimmen von Persönlichkeiten aus der Geschichte des Iran, die die Impulse für die kritische Position der Choreografie liefern. So hören wir die Übersetzung einer Stellungnahme des früheren Staatspräsidenten und Ajatollahs Rafsanjani, in der er bekräftigt, dass die Meinungsfreiheit in Iran ein hohes Gut und selbstverständlich für alle 70 Millionen Iraner*innen gewährleistet sei. Gleichzeitig zu dieser Aussage aber erscheint auf zwei Bildschirmen jeweils ein Gesicht, dessen Mitte mit einem weißen Rechteck überdeckt ist. Dazu lesen wir die zugehörigen Namen mit Daten von Verhaftung, Folter oder gar Tod. Gemäß dem Motto der Veranstaltungsreihe „Mythen der Wirklichkeit“ beschäftigt sich die Performance auf mehreren Ebenen mit dem Widerspruch von (politischen) Realitäten und seiner Erzählung und beschreibt den Iran als zerrissen zwischen alter Tradition, westlichen Einflüssen und dem Narrativ der postrevolutionären islamischen Republik.

Und als am Ende noch einmal die Frauenstimme erklingt, die davon erzählt, dass der kleine Fisch nicht einschlafen konnte, weil er die ganze Zeit ans Meer denken musste, fällt es leicht, sich in ihn hineinzuversetzen. Nicht auf der Ebene großer, abstrakter Träume als vielmehr im Nachvollziehen jener Ziele, die erreichbar scheinen, aber doch nicht zugänglich sind.