Approximate Sonata 2016/One Flat Thing, reproduced/Blake Works I, William Forsythe ©Yan Revazov

Jenseits der Freude am Evidenten

Mit dem  Staatsballett Berlin bringt William Forsythe drei Pionierarbeiten zurück auf die Bühne. Es ist ein Abend der lebendigen Begegnung mit Tanz als einem Prozess, der von den Tanzenden wie vom Publikum erst entschlüsselt werden muss. Auf die Premiere am 16. Februar 2024 in der Deutschen Oper folgen Vorstellungen vom 19. bis 23. Februar, 4. bis 14. März und 1. bis 9. April. 

Mit ihrer revolutionierenden Fortschreibung der Form haben Forsythes faszinierende Choreografien seit den 1970er Jahren die Grenzen von Balletttechnik und -konvention kontinuierlich weitergezogen. „Ich musste einen Weg um Balanchine, Petipa, Cranko, MacMillan und die ganze Meute finden“, erklärte der Choreograf 2012 in einem Interview.  Approximate Sonata 2016 (2016), One Flat Thing, reproduced (2000) und Blake Works I (2016) sind mit ihren brillanten – wie die Choreografien selbst puren und poetisch komplexen – Titeln drei exquisite, kontrastreiche Vignetten, mit denen der Künstler die visuelle Verteilung kontrapunktischer Tanzstrukturen radikal erkundet und in Szene setzt.

Blake Works I, das sich im Vergleich zu den beiden anderen Produktionen in der Trilogie der Deutschen Oper stärker historisch als analytisch präsentierende dritte Werk, verweist auf die innovative Ballettforschung William Forsythes. 2016 für das Ballett der Pariser Oper geschaffen, gründet  es am explizitesten im klassischen Idiom. Den Soundtrack weben sieben Songs aus James Blakes Popalbum The Colour in Anything. Mit emotionaler Intensität sprengen sie die Grenzen der musikalischen Ballade. Blakes stimmungsvolle, aquarellfarbene Klanglandschaft findet ihr Echo in den puderblauen Trikots und Chiffon-Ballettröcken der Tanzenden: das Standarddress für den regulären Unterricht.

Im Gespräch mit dem Intendanten des Staatsballetts Christian Spuck und Dramaturgin Katja Wiegand sagt Forsythe: „Die Tanzenden demonstrieren ihre Meinung zum Werk. Sie unterwerfen sich ihm nicht.“ Getreu seinem Wunsch, Tanz mit und für seine Tänzer*innen zu machen, ist Blake Works I eine Auseinandersetzung mit der französischen Schule des klassischen Balletts, hier rekontextualisiert und in der Erfahrung komponiert vom Ensemble des Staatsballetts. Als Hommage an ihre ureigenen, formbildenden und einflussreichen Wurzeln verbindet das Stück Exerzitien aus dem Ballettkanon und die Strukturen der Ballettschule mit Referenzen an Stile und Perioden des Tanzes.

Ich sitze im Parkett, mittig, und bin entzückt von der Dynamik, der Hoffnung und Freude, die Tanz und Musik ausstrahlen. Ich versinke in meinen eigenen Erinnerungen an die Strukturen des Balletts, die sich so liebe: aufstrebende Linien, Symmetrie, Tableaus, Pas de deux, und verfolge gebannt die visuellen Wendungen und innovativen Formen dieses Werks, in dem sich die poetischen Melodien und Worte der Blake’schen Musik widerspiegeln. („I hope I’m right when I’m speaking my mind.“) Dieser Liebesbrief an den Tanz weckt meine physische Leidenschaft für das Ballett, die sich in der Performance hier auf der Bühne in bedingungsloser Hingabe und endloser Repetition von Formen und Sequenzen manifestiert. Ballett war mir lebenslang Stütze und Fluch zugleich. In Blake Works I, erkenne ich die virtuose Spiegelung dieses Anspruchs.

Freudig und kraftvoll feiert das Staatsballett die Kunst des Balletts, in einer Darbietung mit Stil und Anmut, unterlegt mit Forsythes überzeugtem Engagement für den Diskurs mit dem Tanz. „Bekräftigt das Ballett und stellt gleichzeitig infrage, wie es getanzt wird,“ sagt er seinen Tanzenden. Wenn ich heute im Unterricht tanze, dann am liebsten, wenn uns Popmusik begleitet und ich die vibrierende Lebenskraft in den hypothetischen Strukturen des Balletts, aller Ballette und jeder Arabeske, in mir spüren kann.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Approximate Sonata 2016 / One Flat Thing, reproduced / Blake Works I von William Forsythe wurde am 16. Februar 2024 beim Staatsballett Berlin/Deutsche Oper uraufgeführt und ist außerdem vom 19. bis 23. Februar, vom 4. bis 14. März und vom 1. bis 9. April zu sehen. Tickets