Die Live-Installation „E-rase M E-go“ im Dock11 von Lisa Stertz, Morvarid K, Sajan Mani und Yuko Kaseki schwebt zwischen Faszination und Langeweile
In einer von Schnelligkeit geprägten Welt Abstand zu sich selbst zu gewinnen, ist wohl eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft. Wer den Kunstraum von „E-rase M E-go“ betritt, wird Zeit und Raum nur vergessen, wenn er sich von allem löst. An drei Abenden bespielen vier Künstler aus Deutschland, Indien, Iran und Japan das Dock11 für jeweils drei Stunden. Die Butohtänzerin Yuko Kaseki führt sie alle in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen: Stertz, die gerne damit arbeitet, die Zuschauer*innen in Langzeitinstallationen zu Besucher*innen zu machen und bereits 2015 mit Yuko Kaseki das Butohstück „Shoot Jeez My Gosh“ entwickelte; Sajan Mani, der seinen schwarzen Körper als sozio-politologische Metapher betrachtet und die Fotografin und Multimediakünstlerin Morvarid K, die sich in ihren Werken auf Grenzen, private und öffentliche Freiheit konzentriert. An jedem Tag entwickelt sich die Live-Installation, die alle fünf Sinne anspricht, weiter. Es sind Momentaufnahmen, die nicht auf Vollständigkeit beharren, sondern in ihrer Unvollständigkeit individuelle Bilder und Deutungsmöglichkeiten kreieren.
Der Zuschauer*in bewegt sich frei im Raum und entscheidet selbst, worauf er*sie seinen*ihren Blick richtet. Im Raum liegen teils Materialien aus der Natur, teils Gegenstände: Ein paar Granatäpfel, ein Eimer Wasser, ein Kreis aus Erde, eine Rolle Pergamentpapier, ein rotes Fahrrad, das Mani beim Versuch, damit zu fahren am ersten Tag versehentlich kaputt machte und ein Koffer, den Kaseki später nutzen wird, um sich darin wie eine Puppe mit eingeknicktem Oberkörper hineinzulegen und sich so unbemerkt ein weißes Kleid anzuziehen. Ein wichtiger Bestandteil der Performance sind auch Kreidestücke, die Morvarid K verwenden wird, um die Schatten der Besucher zu zeichnen und sie danach mit verschnörkelter Schrift zu füllen. Bei näherer Betrachtung sieht die Schrift aus, wie das englische Wort für Leere: „Void“. Meint Morvarid K die heilsame Leere, die eintritt, wenn man den Alltag vergisst und Platz für Neues schafft? Eine nur temporäre Leere – gleichsam dem Kreis, der sich zunehmend füllt – weil neue Eindrücke das Nichts wieder auflösen?
Nicht alle Besucher*innen sind mit dem langsamen Tempo der Performance einverstanden, sie verlassen öfter den Raum oder gehen. Je länger man bleibt, umso intensiver wird das Erlebnis, das in immer kleinerem Rahmen stattfindet. Es findet wenig Interaktion mit den Zuschauenden statt. Erst als Kaseki einzelne Tonklümpchen mit voller Wucht an die Wand wirft, steht ein Mann auf und schleudert seinen eigenen Klumpen mit aller Kraft die Wand. Einige aus dem Publikum tun es ihr nach. Doch selbst bei dieser einfachen Aktion bleiben die Besucher*innen zurückhaltend. Auch die Performer*innen selbst werden nur wenig interagieren. Sie agieren spontan und bleiben meist für sich.
Auf dem Boden befinden sich fünf Klumpen Ton auf dem Boden, die zusammengefügt Kasekis Gewicht ergeben: 46 Kilogramm. Am darauffolgenden Tag wird sie ihr Gesicht in dem 46-Kilo-Klumpen vergraben, als würde sie eins mit der Erde werden wollen. Später wird sich Mani der Japanerin anschließen. Beide pressen ihre Gesichter in den Tonklumpen, kämpfen lustvoll damit, sich mit ihm zu vereinigen. Sie stöhnen und drücken sich immer noch tiefer in die feste Masse.
Mani setzt sich am ganzen Abend mit seiner indischen Herkunft auseinander. Verbirgt er sein Gesicht im Tonklotz, dann ist sein zuvor kohlrabenschwarz angemaltes Gesicht nicht sichtbar. In seinem Heimatland ist Mani ein Dalit, ein „Unberührbarer“. Dalits gehören zu den niedrigkastigen oder kastenlosen Armen. Es heißt übersetzt „zerrissen“, „vertrieben“ oder „der Zur-Schau-Gestellte“. Mani greift das Dalit-Motiv auf und wird sich im zweiten Teil der Performance immer wieder mit weißer Farbe übergießen und in einem Bottich mit Wasser baden. Daliten befinden sich im Hinduismus zwischen rein und unrein. Ein klares Bild, dem sich Mani viel zu lang hingibt. Bis zum Ende der Performance verharrt er in seiner Rolle, anstatt sich endlich davon zu befreien. Kaseki, die zuvor mit den Füßen auf dem Tonklumpen herumsprang, scheint diesen mit allen Sinnen erforschen zu wollen. Und so vereinen sich beide mit dem Naturstoff. Anfangs fasziniert das Bild, dann irritiert es, dann gibt es den Blick frei auf andere Geschehnisse.
Während durch Movarid Ks Pinsel ein Parkettmuster an der Längsseite des Dock11 entsteht, putzt Stertz einen Teil des Raumes mit Besen und Wischlappen. Sie nennt den Teil „Cleaning as waking up“ und schreibt die Bezeichnung auf eine Kreidetafel. Das ist schade, denn die Struktur beraubt ihrer Handlung die abstrakte Deutung. All ihre einfachen Handgriffe beschäftigen sich Alltagsriten für die sie manchmal sehr schöne Bilder findet. Dann zum Beispiel, wenn sie Kalkstein für Kalkstein auf den Boden legt und jeden zuvor auf den Boden abgelegten Stein als Trittstein nutzt. Spätestens, als sie den Knoblauch anbrät, ist Teil vier nach „Cleaning as waking up“, „Preparing Stuff“ und „Cooking the kitchen“ schon erkennbar: Das Abschlussmahl „At the table“ für alle sechzehn Besucher und ihre drei Mitperformer*innen.
Stertz lädt sie ein, indem sie ihnen Sitzkissen hinlegt. Sie werden keinen Rosmarinreis mit den Händen essen oder vegane Suppe aus Gläsern trinken. Mani wird weiterhin in seiner Wanne baden, Movarid K wird erst malen und sich später hinter das Lichtpult begeben und Kaseki wird weiter performen. Sie liegt auf dem Rücken und schiebt sich ungeachtet der Kerzen und der heißen Töpfe über die Festtafel. Besucher*innen räumen Beeren, Tomaten, Teller weg. Kaum ist sie verschwunden, wird weitergegessen, als wäre sie niemals dagewesen. Ein erschreckender Moment, der zeigt, wie unsere Gesellschaft heutzutage funktioniert. Kaseki, die sich zuvor wie eine Tote mit Pergamentpapier zudecken ließ und sich zu einem anderen Zeitpunkt mit Hand und Fuß eines Skelettes wie auf Krücken fortbewegte, erscheint wie ein Geist aus dem Reich der Toten. Doch wir achten sie nur in dem Moment, in dem sie erscheint. Danach erfasst uns der Alltag wieder. Es sind starke Bilder, die Kaseki an dem Abend kreiert.
Es ist schwierig aus all den Einzeleindrücken ein großes Ganzes zusammenzusetzen. An jedem Tag wird fortlaufend mit dem Raum gearbeitet, wie er am Tag zuvor verlassen wurde. Die Art der Interaktion der Performer*innen untereinander ist sehr unterschiedlich. Lisa Stertz schafft Rahmenbedingungen mit denen Kaseki arbeitet. Am ersten Tag erschafft sie einen runden Erdkreis, auf dem rohes Gemüse und Kerzen wie Opfergaben liegen und lässt sich von Yuko Kaseki begraben, am zweiten Tag nutzt Kaseki das Bild, um damit zu arbeiten. Durch diese versteckte Zusammenarbeit verbinden die beiden Performerinnen beide Tage. Kaseki hingegen setzt beim Publikum wie auch bei ihren Mitstreiter*innen auf Aktion und Reaktion. Morvarid K schafft durch ihre Malerei ein kreatives Umfeld und Sajan Mani bewegt sich in ihm. „E-rase M E-go“ schafft wenige, aber sehr intensive Gänsehautmomente, die noch viel zu stark von den Persönlichkeiten der einzelnen Performer*innen geprägt sind. Anstatt miteinander zu arbeiten, arbeiten sie meist aneinander vorbei und verpassen so die Chance, etwas ganz Großes zu erschaffen.