„Incrediball“ © BerlinVoguingOut/Homardpayette

Im silbernen Käfig


Beim “INCREDIBALL” im HAU 2 werden fünf Jahre Voguing gefeiert.

Hat es wirklich erst vor fünf Jahren angefangen? Tatsächlich, Berlin Voguing out ist zum fünften Mal in Berlin, zum zweiten Mal im HAU Hebbel am Ufer. Vor dem Haus eine Menschentraube, drinnen Ticketkampf. Diszipliniert zwar, aber eisern. Als die Türen zum Theater, und damit zum Jubiläumsball der Wunder, dem “INCREDIBALL”, aufgehen: Johlen. Kaum zu glauben, wie schnell dieser Community Dance in Berlin sein Publikum gefunden hat. Die Szene spielt auf, als wäre sie schon immer dabei. Wenn Georgina Leo Melody, Mutter der ersten deutschen Vogue-Familie, des House of Melody und Zugpferd der Berliner Szene, ins Mikro ruft “Make some noise, audience”, klar, dass dann getrommelt und gepfiffen wird. Sie hat ein weißes Tüllkleidchen an, durchsichtig bis auf Höschen und Pasties, perfekt geschnitten.

Der Mitmoderator des Balls, Archie Burnett aus New York, Vogue-Legende, Großvater des House of Ninja und unverzichtbarer Unterstützer der europäischen Szene, trägt etwas mehr: Schottenrock, Kniestrümpfe, Bluse und Samt-Gehrock, dazu ein Handtäschchen, das mittig um die Hüfte baumelt. Er hält sich großväterlich zurück in dieser langen Nacht, lässt Leo Melody die Show. Und deren Akku läuft einfach nicht leer. Über sechs Stunden lang am Mikro, nie ein Ausrutscher, gut dosiert das unwiderstehliche Lächeln. Unterstützung kommt außerdem von den Tänzer*innen aus ihrem House, die nicht am Wettbewerb teilnehmen, sondern geschlossen als Host auftreten – eingehüllt in ein eigens entwickeltes Unisex-Parfum, Marke “House of Melody”.

Geschätzt sind zum Groove von Ballroom-Beatz-DJ Vjuan Allure zwischen 150 und 200 Tänzer*innen am Start. Die Battles laufen in den Kategorien Mini Production as a House, European Runway, Bizarre, Pretty Boy Realness / Straight Male, Defipayette Qualification (eine Vorauswahl für einen Ball im französischen Lille), BREAK Hands Performance, Old Way, New Way und Vogue Fem.

Bezeichnend ist, dass hinter fast allen Kategorien “Open To All” steht. Es gibt also kaum genderspezifische Formate, etwa für Transgender oder Transsexuelle. Das sagt auch etwas über die europäische Szene, die nach Berlin angereist ist: Die queere Afro-Latin-Ästhetik des Voguing steht hier nicht unbedingt für Herkunft und sexuelle Orientierung. Ursprünglich hatte der in Harlem, New York, entstandene Ballroom-Tanz auch viel damit zu tun, eine Performance für die eigene Sexualität und ihre Facetten von Queerness und Transition zu entwerfen. Oder auch schlicht damit, die Camouflage-Techniken des Überlebenskampfs als schwarzer homosexueller Mann auf die Bühne zu bringen.

Dass sich das ändert, muss nicht schlecht sein, sondern steht im besten Fall sogar für gesellschaftliche Veränderungen zum Positiven. Besonders auffällig ist der Gender-Drift in der Fem-Kategorie, in der weit mehr blonde Mädchen antreten als physische Männer. Allerdings haut es einen nicht gerade um, wenn die Tänzerinnen dann ohne ein klares Statement zum Fem-Diskurs einfach ein paar Stretches, Dips und Tanzstudio-Einlagen hinlegen. Auch in der paarweise gelaufenen Kategorie Runway herrscht eine Lust an heterosexuellen Rollenverteilungen. Am Ende wird es spannend zwischen der hochstilisierten Hetero-Performance von Diva Mizrahi & Nikos 007 im Mondrian-Dress und Keehdi Mizrahi & Mateyouz Laduree, die in Drag-Ästhetik einen seltsam undefinierten Look aus “indischen” und “afrikanischen” Elementen, Sklaven- und Sklavenhändlergarderobe vorführen: flatternde Batikmäntel, große Goldringe in den Ohren, massives Goldgeklimper um die Arme, auf dem Kopf ein Kopftuch (Gele) mit Turbanknoten. Mir kommt der Verdacht, dass die Jury, die aus den New Yorker*innen Sinia Ebony, Stan Milan und Jack Mizrahi besteht, letztlich – traditionsbewusst – den Drag-Auftritt an sich kürt und weniger die Multi-Kulti-Garderobe.

Stilistisch viel klarer einordbar treten die meisten Walker*innen in der ersten Berliner Bizarre-Kategorie auf: als Fisch, Pan, Blüte, Papagei, Frosch mit entsprechend angepasstem Bewegungsstil. Thema war “Amazonas Rainforest”. Die Trophäe geht dann an eine Kostümskulptur, die in keine öffentliche Toilette passt, und die wahrscheinlich das Produkt einer Ayahuasca-Ethno-Sci-Fi-Meditation ist: Thea 007 steckt in einem All-Silver-Look, einer Mischung aus Bahre, Schrein und Käfig mit Sprungfeder-Gittern und chinesischen Lampions an den Ecken – eine halb organische, halb mechanische Gottheit mit minimaler Bewegungsfreiheit.

Tänzerisch interessant geht es vor allem in der Kategorie Hands und in der Qualifikation für Defipayette-Wettbewerb im französischen Lille zu. Die Konkurrenz in Hands ist stark. Das Tempo, die Präzision und die Fantasie, mit denen die Performer*innen den winkeligen “Hieroglyphen”-Stil zum Thema “Magic” um die Körper herumwirbeln, gehört ganz klar zu den Highlights des Balls ebenso wie Fab Prawn Ebonys androgyne Defipayette-Performance zwischen Marilyn Monroe und Tod in Venedig. Fab Prawns Dips und Stretches wirken nicht vorgeführt. Eher wie die Einfälle eines im Sand spielenden Kinds. Nur der rot geschminkte Schmollmund verrät die laszive Kalkulation dieser perfekt durchgehaltenen Introvertiertheit.

Trotz guter Stimmung, trotz Highlights: Irgendwann dauert es zu lang. Anders als in einem Ballroom sitzt man im Theater des HAU 2 kontinuierlich – wenn man nicht gerade versucht, den Parcours zur Bar zu bewältigen – auf der Zuschauer*innenbank, und manche der größtenteils übervollen Kategorien dauern einfach sehr, sehr lang. Kurz nach 2:00 Uhr, nach den ersten Fem-Girls, will ich raus. Der größte Teil des Publikums aber bleibt und fiebert der After-Party entgegen.