„KHAOS“, Laurent Chétouane © Thomas Aurin

Gestörter Gleichklang

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Laurent Chétouane kreist in „KHAOS“ am HAU2 um Fragen von Ordnung und Wirrsal

Chaos als Chance: Dem altgriechisch ambivalenten Begriff des khaos als Abgrund und Aufbruch wendet sich Laurent Chétouane zu. Unterlaufen möchte er die eindimensionale Lesart von Chaos als Unsicherheit und bedrohlicher Unordnung. Dem Ungefügten als Möglichkeitsraum spürt er in “KHAOS” nach, seiner neuesten Tanz-Musik-Performance am HAU2. Verletzlich wirken die Tänzer*innen Mikael Marklund, Kotomi Nishiwaki und Tilman O’Donnell bei ihrem Auftritt (Bilal Elhad fiel wegen Krankheit bei der Premiere aus). Einander umarmend (oder stützend?) schreiten sie Runden auf der Bühne ab, um sich blickend wie aus ihrer je eigenen Mitte gestoßen, vorsichtig fühlend ihre Schritte setzend. Beständig tasten sie nach den anderen, fast ohne Augenkontakt, aber als wollten sie sich ihrer Präsenz versichern.

Als die Musiker Mathias Halvorsen (Klavier), Tilman Kanitz (Cello) und Artiom Shishkov (Geige) ihre Plätze an drei Seiten der Bühne eingenommen haben, lösen sich die Tänzer*innen voneinander und steigern das Tempo, bis sie ins Taumeln, Kreiseln, Drehen geraten – es bleibt ihr Bewegungsmaterial, das sie im Laufe der Performance modulieren und variieren. Gelegentlich deutet sich eine dem klassischen Tanz entlehnte Phrase an wie eine ferne Erinnerung, jeglicher Virtuosität unverdächtig. Die Arme schwingen oder scheren um die Körper, das Trudeln wird mal zum Stolpern, Fallen, Liegen, mal schwingt es sich in einer kontinuierlich harmonischen Drehbewegung ein. Dieses multizentrische Kreisen – um die Bühne, umeinander und um die je eigene Achse – weckt Assoziationen mit einer astronomischen Uhr oder einem mechanischen Planetenmodell und dessen intrikat miteinander verschränkten Bewegungsbahnen.

Körperliche Klanguniversen

Musikalisch wirkt “KHAOS” berückend reduziert und komplex zugleich. Wenige Klänge, auf Grundlage von Bach-, Rihm-, Cage-Kompositionen und Improvisationen der drei Solisten, schaffen räumlich Atmosphäre: das Zupfen der Klaviersaiten oder Beklopfen des Korpus, ein Knarzen des Bogens auf den Cellosaiten, das Nachklingen, wenn ein Streichinstrument auf den Boden gelegt wird. Aus der Stille schält sich in zyklischen Zeitabständen Bachs „Partita No. 2“ für Violine, als entstünde Form aus dem Nichts. Hingebungsvoll emphatisch gestaltet Artiom Shishkov diese Klanguniversen – das Volumen der Musik wird in seiner Ausdehnung körperlich. Shishkovs Musikerkollegen Halvorsen und Kanitz nutzen Klavier beziehungsweise Cello, um den Klang empathisch zu kreuzen: sie nehmen in einem Tastenanschlag die Tonhöhe auf oder setzen mit schrammendem Bogen einen störenden Akzent, kratzen an der Schönheit und heben sie derart noch mehr hervor. Vollendete Form löst sich sodann wieder in Stille auf, als tauche ein Fisch nach dem Atemholen zurück ins Wasser, als versinke eine mögliche Welt erneut unter der Oberfläche.

Mit einer Anmutung des Natürlichen versehen sind auch die Lichtstimmungen (Jan Maertens) zwischen fahlem Grau wie vor einer Sonnenfinsternis und strahlendem Gold wie an einem Sommertag. Mit den Kontrasten in Choreografie, Musik und Licht – Taumeln und Kreisen, Missklang und strahlende Form, Düsternis und Licht – weckt “KHAOS” den Eindruck eines Zusammenspiels von Chaos und Kosmos, dem Gegensatzpaar griechischer Schöpfungsmythen. (Auf den aus dieser Dichotomie zusammengeschweißten Kunstbegriff “Chaosmos” von Gilles Deleuze und Félix Guattari weist die Ankündigung zur stückbegleitenden Debatte hin.)

Eine neue Theater(un)ordnung?

Ist “KHAOS” auf die harmonische Wechselschwingung der Gegensätze hin angelegt, bleibt letztlich doch der Eindruck des Disharmonischen: Während in der Musik und im Licht die Störungen bewusst gesetzt sind, leidet der Tanz unter nicht gewollten Brüchen und Beeinträchtigungen. Zum einen ist die Nähe, aus der man die Aufführung im HAU2 verfolgt, für das choreografische Material nicht vorteilhaft. Das mimetische Verhältnis des Tanzes zur Musik, der ihr Aufklingen recht simpel in eine höhere Dynamik umsetzt, lässt auch die angedeuteten Relevés oder Arabesquen fast laienhaft wirken; was mir bei Chétouane bislang zart erschien und in positiver Weise nachgiebig, gerät hier nur noch manieristisch.

Die Publikumsnähe beeinträchtigt zudem die ekstatische, religiös anmutende Versenkung der Ausführenden und damit die Grundlage der Atmosphäre von Chétouanes Performances. Versuche, mit Blicken ins Publikum Kontakt aufzunehmen, scheitern, auch, weil direkte Kommunikation und mitunter hermetisches Kreisen unvereinbar scheinen. Teile des Publikums reagieren auf dieses uneindeutige Angebot aus vorsichtiger Fühlung und gleichzeitiger Distanz mit Ablehnung – unterdrücktem Lachen, stampfendem Verlassen des Theatersaals, gar lautem Klatschen, welches das Ende der Veranstaltung fordert (die zweifelsohne Längen hat und die angekündigten 70 Minuten deutlich überschreitet).

Hier wird, vielleicht von einem dem Tanz eher fern stehenden Publikum, die Theaterverabredung der bewegungslosen, schweigend hinnehmenden Rezeption gekündigt oder zumindest angefochten. Könnte dieses im Momentum gestörte Verhältnis von Künstler*innen und Zuschauer*innen möglicherweise auch ein Hinweis auf die derzeitigen Veränderungen im öffentlichen Umgang miteinander sein? Negativ gesagt: Pöbeln wird man wohl noch dürfen. Oder positiv: Das Publikum häutet sich von der schweigenden Menge zur beteiligten Versammlung. Dann könnte aus einem Chaos wie dem bei Chétouanes Premiere eine neue harmonisch schwingende (Theater-)Ordnung erwachsen.