„Heimatfront – Das Desaster lässt grüßen“, Martin Stiefermann © Andreas J. Etter

Tsunami im Wasserglas

Bedrohte Wohnzimmerreservate: Die „Heimatfront“ der MS Schrittmacher im Theaterdiscounter kämpft um Haltung

Dass in jeder Brausetablette ein Tsunami steckt, darauf muss man erst einmal kommen. Im neuen Tanztheaterabend “Heimatfront – Das Desaster lässt grüßen” der MS Schrittmacher entfaltet sich die ganze Wucht der Natriumcarbonate in einem Aquarium. Vor dem Zoom einer mitlaufenden Kamera und live auf die Größe der Bühnenhinterwand im Theaterdiscounter übertragen, wird aus dem quirligen Blubbern ein Untergangsszenario wild einstürzender Existenzen. Südseeträume mit Collie und Pony, Einfamilienhaus und Wäschekorb, ein paar Millionen Jahre Existenz zwischen Dino und Daseinsflucht, Papa, Mama, Plastikmüll und auch das Fischerboot mit Bord-TV: Alles nur noch ein einziges Playmobildurcheinander. Bilder kommen auf und vermischen sich. Thailand, Fukushima. Und ausgerechnet während der vier Berliner Spieltage des mit dem Saarländischen Staatstheater koproduzierten Stücks rumort es im Meer vor Fukushima wieder.

Die Welt, die da verbraust wird, diffundiert zwischen den Bildern, die sie erzeugt: Sie gehören gleichzeitig zur biblisch-moralischen Apokalypse einer selbstvergessenen Wohlstandsgesellschaft wie auch zu der in Todesnähe ins Bewusstsein heraufgeblubberten Frage: “Wenn unser Wohlstand auf der Welt Leid produziert, gehört das Leid dann uns?” Verhandelt wird diese Frage von den mit Familienidyllauftrag versehenen Tänzer*innen Jorge Morro, Antje Rose und Nicky Vanoppen da, wo es am gemütlichsten ist – auf dem heimischen Sofa. Aber genauso wie das mit dem Familienidyll daneben geht, weil ständig Wohlstandsübersättigung ausgerülpst, -gekotzt oder -geschissen werden muss, scheitern sie auch an der Bewältigung der aus dem Off eingespielten Kernfrage. Ihre Gesten sind leere Hüllen, ihre Bewegungen verdruckst, dysfunktional, von Ekel und Haltungsschäden gekennzeichnet – auch wenn sie von ballettgestreckten Körpern ausgeführt werden.

Der MS Schrittmacher-Choreograf Martin Stiefermann hat sich entschieden, diese defätistische Agonie als Slapstick zu inszenieren. Angesichts der tragikomischen Beschränktheit von Wohnzimmerwelten ist das sicher ein probates Mittel. Nur wäre, was die Bewegung angeht, sicher noch mehr herauszuholen gewesen. Bei Sofa-Slapstick lässt es sich nicht vermeiden, an Itzik Galilis genderübergreifendes Balzverhalten-Ballett zu denken. So schmissig geht es an der “Heimatfront” nicht zu. Vielmehr verlässt sich Stiefermann auf die Videokunst von Erato Tzavara. Das ist grundsätzlich spannend. Wenn die Performer*innen in die Videospielwiese als Projektionsflächen integriert werden, und nicht mehr klar ist, welche Realität wem gehört, funktioniert es am besten. Etwa am Anfang des Stücks, wenn auf Sofa samt Belegschaft eine verschwommene Supermarkt-Warenlandschaft gebeamt wird, die wie aus dem Innern einer Kamerafahrt zum dekadent geloopten zweiten Satz aus Schuberts Klaviertrio in Es-Dur auf das Publikum zukommt. Oder wenn die Live-Darsteller plötzlich auf dem großgezogenen 50er-Jahre Playmobilfernseher aus dem Fischerboot erscheinen – wie in einer Reportage über die Drahtzieher der globalen Katastrophe. Nur wenn sie zu Klassikhits (Wagners “Walkürenritt”, Prokofievs “Tanz der Ritter”, Orffs Carmina Burana, Wiener Walzer) ihr Eigenleben entfalten, dann bleibt diese Ohrwurmverwertung recht uninteressant. Alles deutet daraufhin, dass sie einfach nur Dumpfbacken spielen, und das ist vielleicht doch ein bisschen zu einfach. Ab und zu würde man gerne ihre “Seufzer, die sich bis zur Herzensangst steigern” – so hat Schubert seinen zweiten Klaviertriosatz beschrieben – ernster nehmen können.