„Projecting [Space[„, Meg Stuart/Damaged Goods © Laura van Severen

Ich stehe auf dem Kaisersteg in Oberschöneweide und blicke in Richtung Zukunft …

Mit „Projecting [Space[„, ihrem 2017 im Rahmen der Ruhrtriennale gezeigten Entwurf eines zukünftigen Zusammenlebens kampiert die in Brüssel und Berlin arbeitende Choreografin Meg Stuart noch bis Anfang Oktober in den Reinbeckhallen, einer heutigen Eventlocation und einstigen Transformatorenhalle im ehemaligen Fabrikquartier Oberschöneweide. Zukunft und Gegenwart liegen in der Berliner Version des Stücks dicht beieinander.

Was wäre, wenn ein Nomadenstamm aus der Zukunft in die Jetztzeit käme? Er würde mit BMX-Rädern und einem Opel-Kombi am Spreeufer aufschlagen und dort vorübergehend ein paar leerstehende Fabrikhallen beziehen. Auffallen dürften die Zeitreisenden hier kaum, denn Menschen mit ausgefallenen Lebens- und Arbeitsideen sowie dem Glauben an gelebte Utopien gibt es in Berlin genug.

Ich stehe auf dem Kaisersteg in Oberschöneweide und blicke in Richtung Zukunft. Auf der Wiese vor den Reinbeckhallen gleich an der Spree wird in wenigen Minuten Meg Stuarts „Projecting [Space[“ beginnen. Ich gehe die stattliche Fußgängerbrücke hinunter und zoome mich durch den „Backstagebereich“ ans Geschehen heran. Links von mir hängen ein paar Jugendliche auf einer Bank ab. Rechts von mir wartet einer von Stuarts Tänzern an einem Gabelstapler auf seinen Einsatz. Von weiter hinten cruisen zwei barbeinige BMX-Fahrer*innen in modischen Hoodies auf mich zu. Ihr Auftreten und ihre Kleidung sind einen Hauch zu cool, um der Realität zu entspringen. Überhaupt wirken die acht Tänzerinnen, die sich an diesem Abend als Zukunftsnomaden mit sozialer Mission imaginieren mitunter wie die ironisch-bizarr überzeichneten Charaktere eines Independent-Comics, der gut und gerne in Berlin, aber nicht zwangsläufig in der Zukunft spielt. 

Im Transit 

Während die Besucher*innen den Tänzer*innen von der Wiese in die Reinbeckhallen folgen, bleibt der soeben in eine trashige Verkleidung aus Seconhand-Klamotten und Glitzerstoffen gehüllte Opel-Kombi mit geöffneten Türen wie die Hülse einer flüchtig aufgeschlagenen Wohnstätte zurück. Das gerade jetzt ein Obdachloser sein vollbepacktes Fahrrad hier vorbeischiebt, mag Zufall sein. 
An der Schwelle zum ersten Performance-Space, dem sogenannten Projektraum, werden wir von zwei Tänzer*innen-Augenpaaren abgescannt; Check-In ins Unbekannte. Mit „Wir“ meine ich eine vorübergehend zusammengewürfelte Gemeinschaft von mindestens fünfzig und mehr Personen. Und das macht an diesem Abend etwas aus. Denn der Raum, den wir betreten, ist eng und auf unausweichliches körperliches Zusammenrücken angelegt. Dicht aneinandergereiht stehen hier mehrere Meter hohe Industrieregale, auf deren unteren Etagen wir Platz nehmen. Vielleicht befinden wir uns in einem leergeräumten Archivraum, vielleicht in einem futuristischen Schutzraum für Weltflüchtige aller Art oder im Schlafabteil eines riesigen Zuges. Auf einer konzeptuellen Metaebene schwingt die Flüchtlings- und Migrationsthematik mit.
Die Tänzer*innen erkunden dieses architektonische Experiment mal dicht an uns vorbeigehend, mal über unseren Köpfen kletternd und suchen immer wieder mit geöffneten Händen direkten Fingerspitzenkontakt. Diese energetische Interaktion könnte spirituelle Wurzeln haben, kommt aber nicht zu esoterisch daher. Meine Wahrnehmung schwankt zwischen einem gemeinschaftlichen Wohlfühlgefühl und gleichzeitigem Befremden angesichts der ungewohnten Nähe zu den anderen Zuschauer*innen sowie den Tänzer*innen.

Emotionale Transformation 

Die ersten beiden Stationen von Stuarts choreografischen Parcours lassen sich als ein Warm-Up auf das lesen, was die Besucher*innen im weiteren Verlauf des Stücks in der ehemaligen Transformatorenhalle erleben sollen. Aus anderen Aufführungen der Choreografin weiß ich, dass sie ein feines Gespür für die emotional-energetischen Übertragungskräfte von bewegten Körpern hat. Empfindungen von Ekstase können dann unmittelbar in Beklemmung umschlagen. Für diesen Abend hat Stuart ihre Mittel einer Art Tuning unterzogen. Die Aufhebung der Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum erhöht die Intensität des Geschehens. 

Unter einem zunehmend ansteigenden Vibrationssound und körperlicher Hochspannung entwerfen die Tänzer*innen kryptische Gesten und lassen zunehmend Spannung im Raum entstehen. Diese schwenkt, kurz bevor sie nicht mehr auszuhalten ist, auf musikalischer Ebene in eine von Rock-´n´Roll-Musik getragene Leichtigkeit um. Auf tänzerischer Ebene aber wird es handgreiflich und gewalttätig. Auf diesen genialen Shift folgt der Versuch zweier Tänzer*innen in der Halle Fallschirm zu springen. Das Scheitern ist vorprogrammiert, aber der Enthusiasmus bleibt auch nach dem dritten Versuch noch groß und steckt das Publikum an. Es folgen Tai-Chi-Sequenzen und archaische Szenen mit Ritualcharakter, die letzten Endes in ein Techno-Konzert münden. Sind mehr Idealismus und meditative Selbsthilfemethoden die Lösung für eine zunehmend rauer werdende politische Weltlage? Für mich haben sich nach diesem Abend zwei Dinge geändert. Ich nehme auf dem Nachhauseweg nicht nur Geräusche klarer wahr, sondern bin auch sozial empathischer gestimmt. Der beinahe psychologische Effekt des Stücks ist nicht zu unterschätzen, wenn man sich im Nachhinein überlegt, wie er umgekehrt funktionieren könnte — mit politischen Zielen.

Notiz

In einem 2007 von Irmela Kästner und Tina Ruisinger veröffentlichten Doppelband zu Meg Stuart und Anne Teresa de Keersmaeker fragen die Autorinnen, woran Meg Stuart glaubt: „Ich bin mir nicht so sicher, was eine sonnige Zukunft angeht, allerdings glaube ich daran, dass wir uns verändern können. Vielleicht gelingt es nicht, unsere persönliche Geschichte neu zu schreiben oder Einfluß auf die gegebenen Umstände zu nehmen, aber wir sind in der Lage, unsere Realität anders wahrzunehmen und schon dadurch die Welt neu zu gestalten.“