The Multiplicity of the Other, Ixchel Mendoza Hernández ©Dieter Hartwig

Heimspiel der Monstrositäten

Die Reihe Fold (Tanzfabrik) zeigt zum Ende des Jahres Arbeiten, die sich mit Geistern und Dämonen beschäftigen. In The Multiplicity of the Other erforscht Ixchel Mendoza Hernández vom 30.11. bis 2.12.2023 das Andere als eine geisterhafte Präsenz im eigenen Körper.

The Multiplicity of the Other beginnt mit einer Blendung. Ein Prolog, in dem die Figur im Zentrum der halbkreisförmigen Tribüne nur schwer auszumachen ist. Unsere Augen, gewohnt, die sogenannte Außenwelt zu erfassen, nehmen jetzt sich selbst und die Bedingungen ihres Sehens wahr. Einige Zuschauer*innen wenden sich ab oder halten eine Hand vors Gesicht. Durch den Strahl der Scheinwerfer fliegt ein Insekt. Dann wird es dunkel in den Publikumsreihen.

Ein aus Lichtröhren konstruiertes Portal erscheint rund um die solo-performende Ixchel Mendoza Hernández. Sie steht breitbeinig, trägt kurze Hosen und hohe Stiefel. Über ihren Rücken fällt ein zwiegespaltener Zopf. Ein Avatar, der auf den Beginn des Spiels, eines neuen Lebens wartet. Mondblaues Licht fällt auf die Szene, Wasser tropft. Dann beginnt eine Stimme zu flüstern, wie von nirgendwoher. Sie erzählt die Geschichte einer alternativen Genesis, in der wir alle aus den gleichen Partikeln gemacht sind, einem unendlichen Fluss ständiger Veränderung unterworfen, angetrieben von einem Momentum jenseits des Selbst. Wie in der ungelenken Animation früher Computerspiele führt der uns nun zugewandte Avatar abgehackte Gesten und Kopfbewegungen aus. Allzu schnell haben wir unsere Körper verlassen und Konzepte werden wollen – die Existenz des Anderen in uns hätten wir vergessen. Doch die Welt werde nach uns weiter existieren, orakelt die Figur. Ob sie damit Unheil oder Segen verkündet, ist unklar.

In mehreren Szenen, begleitet von wechselnden Licht- und Klanglandschaften, verkörpert die verwandlungsbegabte Ixchel Mendoza Hernández chimärische Wesen aus Tier und Maschine, Frankensteinsche Monster und am Boden kriechende Existenzen, die in der Gefangenschaft des hologrammartigen Lichtportals Bilder von Höllenhunden, Kaspar Hauser oder dem Gollum wachrufen. Von Echo und Narziss, der eigenen Stimme und dem eigenen Spiegelbild, heimgesucht, windet sich ihr Körper in Konvulsionen und wird in ruckartigen Ausbrüchen von einer unheimlichen Daseinsform in die nächste geworfen. Hin und wieder flackern im Raum hinter der Performerin weitere Portale auf. Transparente Vorhängen lassen nur schemenhaft ähnlich isolierte Existenzen erkennen, in einem parallelen Universum, einer möglichen Vergangenheit oder Zukunft.

Wozu diese dystopische Multiplikationsübung? Fast forward und mit beeindruckender Präzision wird uns die Geschichte einer Menschheit vor Augen geführt, die durch Ausschlüsse und Zuschreibungen versucht, das Andere zu unterwerfen – und dabei Monstrositäten erschafft, die im wahrsten Sinne des Wortes zum Gegenangriff auf die körperliche und psychische Integrität des Selbst ausholen. Doch wenn das Andere, wie hier, eine reine Funktion des Selbst ist, in welch endloser Exorzismusschleife, welch auswegloser Einsamkeit befinden wir uns dann?

Zuletzt verschwindet der Avatar hinter den transparenten Raumteilern, bewegt sich langsam durch organische Formen aus erstarrtem Wasser und hängenden Pflanzen bis wir sie aus den Augen verlieren. Auch wir Anderen dürfen nun dieses Jenseits betreten, eingeladen, die dort platzierten QR-Codes zu scannen. Bevor ich das Telefon raushole, beobachte ich, wie die Menschen um mich herum nach der „virtuellen Realität“ im Raum suchen. Und plötzlich sehe ich Protagonist*innen in der melancholischen Szenerie eines archäologischen Grabungsortes, Menschen auf der Suche nach einer ungreifbaren Vergangenheit und, in ihr, nach Erzählungen für eine bessere Zukunft.


The Multiplicity of the Other von Ixchel Mendoza Hernández, Premiere am 30.11.2023, weitere Vorstellungen am 1. und 02.12.2023. Tickets unter tanzfabrik-berlin.de.