Soldier M.I.A., Ming Poon ©MIFRUSH Production

Ein vielköpfiges Märchen

In Soldier M.I.A. dekonstruiert und re-arrangiert Ming Poon die alte Legende der Hua Mulan in einer Neuinszenierung für (und mit) einem modernen Publikum. Premiere war am 23. November 2023 im English Theatre Berlin.   

Wer ist Mulan? Was ist ihr Geschlecht? Wo geht sie hin?

Mit diesen drei und vielen weiteren Fragen beginnt Soldier M.I.A. Der Tänzer Lee Mun Wai, Dramaturgin Dandan Liu, Sound Designerin Sum-Sum Shen und Kostümbildnerin Tin Wang rufen sie in den Raum. Dann referieren sie eine Kurzfassung der Legende von Hua Mulan. Die Chinesin Hua Mulan lebte, so heißt es, um 400 nach christlicher Zeitrechnung. Um anstelle ihres Vaters Soldat zu werden, tarnte sie sich als Mann. Wir sehen den Videoclip einer chinesischen Oper, in der Mulan von einem nándàn – ein männlicher Darsteller in einer Frauenrolle – gespielt wird.  Lee und Shen führen uns in ihrem jeweiligen Genre, in Bewegung und Klang, durch ihre ersten Reaktionen auf den Filmclip. Sie offenbaren den kreativen Prozess mit entwaffnender Offenheit und in krassem Kontrast zum extrem stilisierten Original.

Zög‘ ich in den Krieg für mein Land?

Mit ihrem persönlichen Beitrag, der Reflektion der eigenen Erfahrungen mit diesem Thema, scheinen die Performenden in dieser Produktion auf der Suche nach sich selbst. Als testeten sie, ob die Figur, ob Mulan, ihnen als Avatar passt. Sie berichten von der Einberufung zum Militärdienst, vom Aufwachsen im Bewusstsein einer drohenden Invasion. Sie alle sind chinesischer Herkunft, und ihre Geschichten verorten, angesichts der Bedeutung Mulans in der Tradition Chinas, das Stück in einem ganz spezifischen Kontext. Gleichzeitig sind die Fragen von Krieg, Gender und nationaler Identität global genug, um auch uns, deren Herkunft und Erfahrungen andere sind, zu erreichen. Die Performance ist eine Aufforderung, sich den gleichen unangenehmen, unbequemen Fragen zu stellen, die auch die Darstellenden in Soldier M.I.A. umtreiben. Unter welchen Umständen zöge ich in den Krieg für mein Land?

Hilfst du mir, mein Mulan-Problem zu lösen?

Jede:r Performende konfrontiert uns mit einem Problem oder einer Frage zu diesem Thema. Finden wir eine neue Körpersprache für Mulan? Wie stellen wir uns unseren Ängsten? Das Publikum ist zum Mitmachen aufgefordert: Wir sollen ein neues Kostüm für Mulan auswählen oder gemeinsam an einem Sound-Archiv arbeiten. Shen informiert uns kontinuierlich über die Dezibel-Werte verschiedener Klänge: ein Pferd im Galopp, ein Kampfjet, ein Kuss. Zögernd begeben sich Zuschauende zu den Performenden auf die Bühne. Ich beobachte sie und frage mich, wie wir in demokratischen Prozessen wie diesen entscheiden, welche Stimmen am lautesten erklingen dürfen.  

Wer darf die Geschichte erzählen?

Ein erfrischender Gedanke: Dramaturgin, Sound Designerin, Kostümbildnerin stehen selbst auf der Bühne. Plötzlich zentral und zu hören sind die Stimmen derjenigen, die sonst nur ein Name im Programmheft sind. Die Zusammenarbeit mit dem Publikum ist ein weiterer wirksamer Schritt hin zur Dezentralisierung von ownership am Narrativ. Soldier M.I.A. handelt nicht nur von Hua Mulan, sondern vom Geschichtenerzählen selbst, und von den Momenten, in denen wir Mythen, Historien und kollektiven Narrativen begegnen. Viele dieser Stories projizieren angesichts von Kriegen und Kolonialismen, und in ihrem Bemühen um die Festschreibung imaginärer Grenzen, notwendigerweise eine einheitliche Fassade oder behaupten schlichte Wahrheiten. Meist bleibt wenig Raum für Nuancen. Dagegen scheint Soldier M.I.A.  vom realen Wunsch inspiriert, in einem zeitgerechten Korrektiv gegen die verführerisch vereinfachte Erzählung, das Wässerchen etwas zu trüben.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Soldier M.I.A. von Ming Poon (Tanz und Performance Lee Mun Wai | Dramaturgie und Performance Dandan Liu | Sound Design und Performance Sum-Sum Shen | Kostüm und Performance Tin Wang) feierte am 23. November 2023 am English Theatre Berlin Premiere.