„Moving in concert“, Mette Ingvartsen ©Marc Domage

Licht produziert nicht immer Hitze

Die Potsdamer Tanztage 2023 eröffneten mit der Deutschlandpremiere von Mette Ingvartsens „Moving in Concert”. Die Performance, hier interpretiert als Studie zur Interaktion von Licht und Bewegung, inspirierte zu einem kleinen Handbuch der Choreografie.

Handbuch der Choreografie nach „Moving in Concert“

WERKSTOFFE

Werkstoffe sind die unbelebten oder lebendigen Objekte oder Wesen, die den Performanceraum beleben.  Dabei kommt Material mit unterschiedlichen Eigenschaften und von unterschiedlicher Größe zum Einsatz. Folgende Fragen stellen sich:  Wie werden die Werkstoffe genutzt? Ist eine Wiedernutzung für künftige Performances denkbar (Recycling)? Reagieren sie zuverlässig und bei jeder Verwendung gleich?  Handelt es sich um wertvolles Material? Was ist, wenn etwas verloren geht? (Beispielsweise, wenn ein liebenswert neugieriger Mann einen Kieselstein aufhebt und in die Tasche steckt, um ihn seiner/seinem Tanz- und Schreibpartner:in zu zeigen?)

Gewicht

Werkstoffe unterschiedlicher Größe sind unterschiedlich schwer. Kleine Kiesel funktionieren anders als große Steine oder – hier – als menschliche Körper. Auch das Material, aus dem die Steine selbst bestehen, spielt eine Rolle. Überlege, ob das Gewicht deiner Werkstoffe passt: Könnte das Gewicht des einen den anderen zerstören? Könnte ein Kiesel oder ein Stein eine:n Tänzer:in verletzen? Könnte ein:e Tänzer:in den Scheinwerfer zerschmettern?

Textur

Wo befinden sich die Zuschauenden der Performance? Kann das Publikum die Textur der verwendeten Materialen fühlen (anfassen) oder diese nur sehen (betrachten)? Möglicherweise fühlt der/die Choreograf*in den Werkstoff anders als die Zuschauenden. Rau. Weich. Körnig.

Opazität

Dick. Hauchdünn. Opak. Manche Stoffe sind völlig blickdicht. Der menschliche Körper ist intransparent. Die Opazität eines Objekts lässt sich bei Licht prüfen. Manche Objekte – Scheinwerfer, Neonlampen – sind Lichtquellen, wenngleich sie selbst opak sind. Die Opazität wird vor allem dann ein relevantes Thema, wenn zu entscheiden ist, wo sich die Lichtquelle im Verhältnis zum Material im Raum befindet. (Siehe auch: Licht)

Technologie

Die Produktion mancher Werkstoffe bedingt wissenschaftliche Kenntnisse. Manche müssen neu entwickelt (erfunden) werden. Der menschliche Körper ist bereits an sich hochtechnisch. Prüfe, ob es zur intelligenten Weiterentwicklung kommen könnte, womit sich die Choreografie unbeabsichtigt verändern würde. Vergiss nicht, dass Technik auch veraltet (obsolet wird).

Kostüme

Sei dir über die zusätzlichen Kosten bewusst, wenn du mit einem Ensemble arbeitest. Wenn du dich gegen Kostüme entscheidest, musst du die Körper der Performenden berücksichtigen. Welche Geschichte erzählt ein Körper ohne Kostüm? (Siehe auch: Technologie)

BEWEGUNG

Wiederholung

Ein Akt erscheint oder ist in seiner Wiederholung bereits verändert. Ein von neun Körpern mehrere Minuten lang wiederholter Akt lässt die Unterschiede sichtbar werden – die absolute, vielleicht unbeabsichtigte Synchronizität und die minimale Verzögerung des seinem jeweiligen Projektil folgenden Körpers, der innehaltende Körper, ein Richtungswechsel. Gleichzeitig verzögert die Wiederholung die Wahrnehmung sichtbarer Veränderungen, beispielsweise das langsame Dimmen oder Hellerwerden der Beleuchtung.

Wiederholung ist das
Mittel, etwas zu
betonen oder zu
entwerten, indem man es
                        mehrfach
zeigt,              mehrfach
zeigt.              Im
Ozean des Wandels
bietet das Repetitive dem
Publikum ein(en)
Moment des
Wiedererkennens.

Jonathan Burrow, A Choreographer’s Handbook
[Burrow zitiert aus der 2009 vom Cultureel Centrum Maasmechelen
and Dans in Limburg in Auftrag gegebenen Cheap Lecture
von Jonathan Burrow und Matteo Fargion]

Ein Gedicht über das Repetitive aus einem von zwei Körpern wiederholten Vortrag, zitiert in einer Antwort, die vorgibt, ein choreografisches Handbuch zu sein, geschrieben von einem Autor, der aktuell das choreografische Handbuch liest, in dem das Gedicht abgedruckt ist.  

Bedeuten in einem Satz wiederholte Worte in der Wiederholung dasselbe? /

Können in einem Satz wiederholte Worte in der Wiederholung dasselbe bedeuten?

Wiederholung

Hinweis für die Lesenden: Bitte den vorstehenden Text ein weiteres Mal lesen.

Ändert er sich durch die Wiederholung?

Muster

Der menschliche Geist sucht nach Bewegungsmustern. Überlege, wo du sie verändern kannst. Manche Körper kauern oder sitzen. Andere drehen sich.

Überlege, wo sie sich eigenständig verändern können. In einen Schacht fallende Kiesel weisen jeweils eigene Muster des Fallens, Landens, Wegrollens auf.


Überlege, wo neue Muster erscheinen können, ohne dass du dir dessen bewusst bist. Licht, das aus einer rotierenden Leuchtröhre auf die Rückwand fällt, erweckt den Anschein, als falte sich das Licht selbst. Blinklichter wirken in manchen Mustern wie Morsecode. Vielleicht wird er von jemandem aus dem Publikum gelesen. (Siehe auch: Licht)

Offenbarung

Mimik

Ist das Gesicht Teil der Bewegung oder der Maske? Wie gestaltet sich die Mimik der sich Bewegenden? Bleibt diese konstant oder dissonant? Der Blick der Tanzenden lenkt das Publikum in ihr Inneres oder in ein fernes Nichts. Was geschieht, wenn das Formale des erstarrten Antlitzes durch ein Moment von Pathos im Ausdruck unterlaufen oder durchbrochen wird?

SOUND

Subtil

Die Klangquellen können subtil sein – das zarte Summen fallender Kiesel, plaudernde Menschenstimmen, die sich und andere erleuchten. (Siehe auch: Zeit)  

Laut

Schreien.
Dröhnen.

Licht

Licht kann stark in den Vordergrund treten, soweit, dass die Zuschauenden nicht mehr die sich bewegenden Körper der Live-Performenden betrachten, sondern das Licht beobachten. (Siehe auch: Offenbarung)

Wärme produziert Licht. Licht ist aber nicht immer warm. Es produziert nicht immer Hitze. Zwischen Infrarot (Langwellen) und Ultraviolett (Kurzwellen) strahlt wahrnehmbares Licht auf einer Wellenlänge von 400 bis 700 Nanometern.

Sichtbarkeit

Horizontal scheinendes Licht unterscheidet sich vom vertikalen oder quadratischen Lichtschein. Sichtbarkeit ist eine Möglichkeit, zu beweisen, dass etwas vermutlich real ist. Der Kieselregen ist kaum sichtbar, doch der Kieselberg, den er auf dem Boden hinterlässt, lässt ihn real werden. Das Summen der fallenden Kiesel macht sie hörbar und damit – durch ein anderes Sinnesorgan – sichtbar. (Siehe auch: Sound)

Schatten

Die Lichtquelle kann fixiert oder mobil sein. Davon hängt ab, wie die Schatten fallen, wie sie sich bewegen oder verharren. Der Schatten verzerrt und spielt mit den Proportionen der menschlichen Körper und fallenden Kiesel.

ZEIT

Auch uniforme Zeit lässt sich in der Performance als subjektiv erleben. Wir nennen das Zeitgefühl. Klang kann eine Option des Zeitnehmens sein. Die Kiesel fallen – für eine Minute oder länger als eine Stunde. Die Zeit lässt sich dehnen, verlangsamen, beschleunigen. Bewegung kann eine Option des Zeitnehmens sein. Bewegungen, die über einen langen Zeitraum wiederholt werden, generieren einen Flow und eine unaufhaltsame Trägheit. Was lässt die Bewegung stoppen? (Siehe auch: Muster)

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Die Potsdamer Tanztage laufen vom 30. Mai bis 11. Juni 2023, hier findet sich das vollständige Programm des Festivals für Zeitgenössischen Tanz.