HEKATOMBE III, Martha Hincapié Charry ©Fernando Frias Rodriguez

Geschwister der Erde

HEKATOMBE III von Martha Hincapié Charry feierte am 2. und 3. Dezember 2023 im Radialsystem Premiere. Die Produktion teilt das wertvolle Wissen der Wixarika und Kággaba.

Generell definieren wir Geschwister relativ rigide als Blutsverwandte. Doch ließe sich die Idee der Familie nicht auch weiter fassen? Was, wenn wir alle – nicht nur Menschen, sondern alle Lebewesen – Familie wären, mit gleicher Herkunft, auf der ganzen Erde? Der Mond, das Meer, Bäume mit Stämmen dicker als mein Körper wären meine großen Schwestern und Brüder, die ich respektieren würde, von denen ich lernte.

Ich betrete das Theater. Zwei Projektionswände stehen nebeneinander (auf der Hinterbühne). Daneben drei arrangierte Requisiten: ein Hügel weißer Sand (rechts auf der Hinterbühne), ein Stapel großer Zweige (links auf der Mittelbühne) und ein dunkel-schmutziger Dreckberg (Vorderbühne mittig). Sara Carrillo eröffnet HEKATOMBE III. Wir sehen sie auf der rechten Leinwand. Ihre Community, die Wixarika, beschreibt sie als ein „tausende Jahre altes Volk“, und Mais nennt sie „Geschwister“. Auf der linken Leinwand spricht später Mama Shibulata. Er ist Kággaba und erinnert uns, dass weiße und nicht-native Menschen „jüngere Brüder und Schwestern“ sind, die durch ihre Ausbeutung der Erde Leid bringen. „Wenn wir weiter Ressourcen [aus dem Boden] abbauen“, sagt er, „wird es viele Konflikte geben.“

HEKATOMBE III  ist eine vielschichtige Performance. Dabei steht jede Ebene in ihrer Intensität für sich. Die Gleichzeitigkeit ihrer Präsenz zwingt jedoch meine Aufmerksamkeit permanent von einem Element zum nächsten. Ich bin hin- und hergerissen. Auf den Videoscreens folge ich berührenden Interviews (die ich nur dank der Untertitel verstehe) oder sehe Zeremonien der  Wixarika und Kággaba. Live auf der Bühne interagiert und tanzt Martha Hincapié Charry mit dem Sand, dem Dreck und den Zweigen. Sie tanzt langsam und  bedächtig. Bass-schwer und dröhnend durchzieht eine Klanglandschaft fast das ganze Stück, permanent ominös präsent selbst wenn schöne Wixarika und Kággaba Lieder und Tänze auf den Leinwänden zu sehen sind.

Momente der Erholung, wenn die donnergrollende Klangwelt, die meinen Körper und den Boden vibrieren lässt, einen Moment lang schweigt, und nur der Gesang und die Trommeln der Kággaba den Raum füllen. Doch bald setzt das Dröhnen wieder ein. Der Sound steigert sich rasant und übertönt binnen kurzem jeden anderen Klang.  Nun beschleunigen sich auch die Wixarika und Kággaba Rituale zur Ehrung der Natur, die auf den Screens zu sehen sind. Die Bühne wird heller, die projizierten Bilder sind zunehmend schwer zu erkennen und verschwinden schließlich ganz. Der harte, dominante Sound und das grelle Licht haben die Präsenz der Wixarika und Kággaba scheinbar ausgelöscht. ‚Stehen diese Klänge und das Licht für die jüngeren Geschwister, die mit ihrer Gier die Natur zerstören und das Leben der indigenen Völker vernichten?“, frage ich mich. ‚Werden wir vom künstlichen Lärm und Licht der modernen Gesellschaft so betäubt und geblendet, dass wir die Weisheit unserer menschlichen und nicht-menschlichen älteren Geschwister nicht mehr wahrnehmen und anerkennen können?‘

Was am Ende auf der Bühne bleibt, erinnert mich an eine rituelle Stätte: Sand und Dreck verteilt um eine Skulptur aus aneinander lehnenden Zweigen in ihrer Mitte. Ich erinnere mich an den Titel der Performance:  HEKATOMBE III – Bewegungen und Rituale für die Erneuerung der Welt. Wir, das Publikum, hatten soeben als Beobachtende vielleicht an diesem Ritual teil. Wenn das so war, dann will ich nun auch die Geister meiner älteren Geschwister in meinem Körper willkommen heißen und sie erinnern.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


HEKATOMBE III von Martha Hincapié Charry (Videoinstallation: Sara Carrillo and the Wixarika Community, Mama Shibulata and the Kággaba Community) feierte am 2. Dezember 2023 Premiere im Radialsystem.