„Next to Near“, Hermann Heisig und May Zarhy © Tamar Lamm

Geometrische Zischlaute

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Hermann Heisig und May Zarhy/Mamaza stellen in “Next to Near” dadaistische und psychogeographische Verständnis- und Raumfragen. Wann empfinden wir etwas als nah? Wann als fern?

Sucht man einen roten Faden, der sich durch Hermann Heisigs Performances zieht, dann ist es nicht die unverkennbare Art, wie der fast zwei Meter große Heisig tanzt, sondern die Art, wie er eben nicht tanzt.

Der in Leipzig geborene Choreograf und Tänzer beschäftigt sich mit der Entkörperlichung von Tanz “als eine Eröffnung von Spielräumen, in denen mögliche und unmögliche Verhältnisse zwischen Räumen, Verhaltensweisen, Menschen und Repräsentationsformen verhandelt werden können.”

In “Next to Near” lädt Heisig das Publikum zu einer gemeinsamen Erkundung des Festsaals der Sophiensaele ein. Er untersucht, wie sich Intimität zwischen Publikum und Bühne entwickelt, und in welchem Verhältnis physische Nähe und Intimität zueinander stehen. Welche Faktoren entscheiden darüber, ob ein Mensch oder Objekt nah erscheint? Heisigs Performance hinterfragt gemeinsam mit May Zarhy das physische und psychische Empfinden von Nähe und Entfernung auf sehr abstrakte Weise. Heisig und Zarhy, beide Mitte 30, verfolgen hierfür den situationistischen Ansatz der so genannten “Psychogeografie”. Diese Kunstbewegung der 1960er Jahre verwendete beispielsweise fremde Stadtpläne in bekanntem Raum und sorgte so für neue Erfahrungen mit der Stadtstruktur. Auch Heisig und Zarhy stellen das allgemeine Raumverständnis in Frage. Das Erlebnis beginnt schon vor der Performance. Nicht über den Haupteingang, sondern durch die Künstlergarderobe betritt jeder Besucher nur mit Socken und ohne Mobiltelefon den Raum.

Nach und nach erkennt man im halbdunklen Saal zwei gleichgroße Türme aus Papphockern und einen rechteckigen Turm aus Pappe. Alle Anwesenden wandern durch das unbekannte Gefilde, hier und da hört man einen menschlichen Zischlaut. Später stellt sich heraus, dass es die beiden Performer waren, die die neue Raumsituation durch unterschiedliche S-Laute akustisch abtasteten und auch weiterhin abtasten werden.

Die Zuschauer nehmen auf den ehemals aufgetürmten Hockern am Rand der Bühne Platz. Heisig und die mindestens einen Kopf kleinere Zarhy stehen mit dem Rücken zum Publikum vor einem Fenster. Ihre S-Laute erinnern an Lokomotiven und verleihen der Situation eine fremde Dynamik. Einerseits wenden sie sich klar vom Publikum ab, andererseits fühlt man sich von dem ungewohnten Geräusch angezogen. Was genau haben die beiden Performer vor und was genau bedeutet dieses Geräusch? Ohren und der Geist wandern zu den Performern. Obwohl sie weit weg sind erscheinen sie sehr nah. Langsam drehen sie sich um und bewegen sich mit dem surrenden Geräusch – mal in gebückter, mal in gestreckter Haltung suchend vorwärts – als würden sie einer Fliege hinterher spüren.

Tian Rotteveels Ensemble, bestehend aus Elektro-Piano, Kontrabass und Querflöte, begleitet sie mit zurückhaltenden Jazzlauten. Man kann sich immer noch klar auf die Geräusche der beiden Performer konzentrieren, die durch die jazzigen Untertöne nicht eintönig erscheinen, sondern immer wieder neu entdeckt werden können. Die gedachte Fliege ist der rote Faden der Performance. Bis die beiden neue Möglichkeiten finden, um den Raum zu erschließen und das rechteckige Pappobjekt auf der Bühne vermessen. Charakteristisch ist die Veränderung der gefühlten Größenverhältnisse. Manchmal nehmen die beiden Performer mehr Raum ein, als sie es tatsächlich tun. Dann zum Beispiel, wenn Heisig mit nach außen angewinkelten Armen und offener Handfläche ein kleines “V” markiert. Man denkt sich über ihm einen Bogen. Nur Zarhy, die vor ihm steht, begrenzt die gedachte Fläche. Das ungleiche Paar kriecht und rollt über die Bühne, verengt den Raum durch große Sprünge oder macht sich durch Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen – ähnlich wie ein Perpetuum Mobile – ganz klein.

Um den Raum neu zu verstehen kreieren sie eine neue Maßeinheit mit den Armen oder im Sprung mit den Beinen: Ein menschliches “V” oder zwei menschliche “V“s, die sich durch ihre unterschiedlichen Größen zu einem schiefen Quadrat zusammenfügen. Damit nähern sie sich dem großen grauen Pappturm, dessen Maße zum besseren Objektverständnis aufgenommen werden. Die gegenseitige Vermessung geht natürlich schief, da sich Heisig und Zarhy beim Näherkommen mit den Armen ineinander zum “X” verhaken. Zarhys Kopf ruht auf Heisigs Schulter, ihre Körper bewegen sich vorsichtig, so dass das tanzende “X” als Bild wahrnehmbar wird. Sie bilden eine Einheit, die keine Sprache braucht. Als Heisig das Publikum dann mit unverständlichen Worten auffordert, den Papphocker woanders zu platzieren, zeigt er, wie wichtig trotz all der Verwirrung Kommunikation ist. Hermann Heisig und May Zarhy ergänzen sich in “Next to Near” perfekt. Sie ist das kleine unnahbare Wesen und er der große Grenzüberschreiter. Heisig nähert sich dem Publikum mit den bekannten S-Lauten und durchbricht die Grenze zwischen Publikum und Performer. Da die Performance bisher schon fast den ganzen Raum einnahm ist es nur eine logische Folgerung, dass Heisig hier die Distanz zum Zuschauenden überwindet und nur wenige durch seine Handlung irritiert sind. Zarhy hingegen agiert aus der Ferne und bringt die Performance wieder auf eine objektive Ebene. Dem Publikum gibt das die Möglichkeit, die Performance von Außen zu betrachten. Trotzdem erschöpft sich die eigentlich abwechslungsreiche Choreographie der Beiden gegen Ende – etwas pointierter hätte die Performance noch mehr Spaß gemacht.