„Nebula“, Compagnie du Chaos © Milan Szypura

Not-yet-Manifesto

Steigerbar startet mit „Nebula“ der Compagnie du Chaos die neue Programmschiene der Berliner Festspiele zum zeitgenössischen Zirkus

Tanz von der Horizontalen in die Vertikale zu verlagern, das klingt nach einem erwägenswerten Unterfangen. Unterbreitet hat den Vorschlag jetzt die französische Compagnie du Chaos, die mit ihrem Einstünder „Nebula“ den neuen Programmschwerpunkt Zirkus an den Berliner Festspielen eröffnete. Alles dreht sich in ihrer Performance um einen Chinesischen Mast – eine mit Drähten fixierte, geschätzt fünf Meter hohe Stange, an der die beiden Artist*innen Rafael de Paula und Ania Buraczynska hochklettern, herunterrutschen, sich mit Armen, Beinen, Füßen, Achseln kopfoben-kopfunten in unterschiedlichen Posen fixieren und um den sie sich in vertracktem Partnering herumwinden. Auch die anspruchsvolleren Tricks an diesem Gerät haben sie im Repertoire, etwa die muskelkraftintensive Herausforderung, sich der Schwerkraft trotzend von der Vertikalen in die Horizontale zu bewegen – den seitlichen Handstand, die sogenannte „Flagge“. Doch der Anspruch der Cie. du Chaos reicht weiter als von Trick zu Trick, und fast könnte man ihre Performance als Bühnenversion des Manifests verstehen, das die neuen Zirkus-Kuratoren der Festspiele, Johannes Hilliger und Josa Kölbel vom Berlin Circus Festival, veröffentlicht haben: Die „Anerkennung als Kunstform innerhalb der darstellenden Künste“ streben sie für den zeitgenössischen Zirkus an. Raus aus dem Zelt, rein ins Theater!

Weniger Unterhaltung, mehr Kunst lautet das Motto, Themen statt Tricks, und so ist „Nebula“ bewusst an den Genregrenzen zwischen Zirkus, Tanz und Medienkunst angesiedelt. Was hat es mit der Verkoppelung von Tanz und Artistik auf sich? Beide sind Körperkünste, insofern ist ihre Verwandtschaft unbestreitbar. In anderen Ländern wie Schweden, Finnland und vor allem Frankreich mit seiner etablierten Infrastruktur für künstlerische Spielarten des „Nouveau Cirque“ ist ihre Verbindung nicht neu – und sie kann bravourös gelingen, wie 2016 Yoann Bourgeois’ Kompanie bewies, die im Rahmen von Tanz im August bei den Berliner Festspielen gastierte.

In „Nebula“ hingegen ist das Ganze nicht mehr als die Summe seiner Teile. Undurchdacht wirkt die Vermischung unterschiedlicher Kunstformen und Stilmittel, die gezeigten Bilder bleiben flach, blass, austauschbar. So verweist manche Sequenz auf eine mögliche Narration – wie Ertrinkende klammern sich die beiden Artist*innen an den Mast; Buraczynska rutscht de Paula kopfüber in die Arme, innig verschlungen lassen sie sich gen Boden gleiten; wie tot liegt Buraczynska auf den Knien des mit könnerischer Körpermechanik an den Mast geklemmten de Paula. Soll „Nebula“ die Geschichte einer Paarbeziehung sein, oder eine Reflexion über die Conditio humana? Eine übergreifende Erzählung ergeben diese narrativen Elemente nicht. Dramaturgisch sind sie unklar gesetzt und die dramatische Gestaltungskraft der beiden Performer*innen ist zu schwach ausgeprägt, um Bedeutungen zu setzen. Wer das Schauspielen gelernt hat, weiß, wie er Emotionen über die Rampe bringt – dieses Paar verliert sich im Irgendwo.

Als Tanzaufführung betrachtet wiederum wäre „Nebula“ reichlich unterkomplex, ja fast amateurhaft: Eine Seitbeuge am bühnenhohen Sportgerät oder Contact-Übungen auf Basisniveau ergeben noch keine künstlerische Choreografie. Die Verlangsamung der Bewegung am Mast (die mitunter in unsicher wirkenden Balancen resultiert) erzeugt nicht automatisch den Eindruck von Sinnlichkeit oder Poesie. Und die Vermeidung artistischer Highlights offenbart lediglich die Begrenztheit des hier gezeigten artistischen Vokabulars und die räumliche Inflexibilität der beiden Akteur*innen. Kaum einmal bewegen sie sich weg von ihrem Gerät, nur für die Auf- und Abgänge kommt als Bodenweg die Linie ins Spiel, gezeigt werden fast ausnahmslos Kreise und Spiralen mit dem Mast im Mittelpunkt, ohne dass es dafür einen ersichtlichen künstlerischen Grund gäbe. Sich vom Gewohnten zu lösen scheint nicht einfach. Hier wird ein Defizit offenbar, das an eine künstlerische Selbstüberschätzung denken lässt: Gelernte Choreograf*innen wissen, wie man einen Raum erschließt und bespielt. Der Compagnie du Chaos fehlen diese Grundlagen komplett.

Letztlich bleibt „Nebula“ Showeffekten verhaftet. Getragen werden die meisten Szenen von suggestiven, pulsierend-sirrenden Klangflächen. Zwischen den Partnerszenen am Chinesischen Mast tanzt zudem die Bühnentechnik: Kunstnebel wirbelt auf den Bühnenboden, von Laserstrahlern scheibenweise in Wolkenoptik beleuchtet. Diese bodennahe Lichtebene wandert dann wie in der Disco schräg nach oben, über das Publikum. Einmal krümmen sich die Laserstrahlen um die beiden Artist*innen zum eindrucksvoll benebelten Tunnel – aber über den Effekt hinaus bleibt die Aussage dieser Optik nebulös. Kurz: Schubkraft verleiht „Nebula“ der Forderung, den zeitgenössischen Zirkus statt im Kabarett oder Privattheater in den öffentlich geförderten Theaterhäusern anzusiedeln, nicht.