MOONSTRUCK © HAU, Dorothea Tuch

Genderfluide Apologie der Finsternis

Vom 3. bis 6. November 2021 wurde im HAU1 das Projekt „Moonstruck: In Praise of Shadows“ von Ariel Efraim Ashbel & Friends aufgeführt. Die Inszenierung ist ein virtuoses Zusammenspiel von Performer*innen, Objekten, intensiven Geräuschen und Licht. Das Projekt ist inspiriert von Jun´ichirō Tanizakis Essay „In Praise of Shadows“, in dem der japanische Schriftsteller über die Schönheit der Schatten schreibt bzw. die Differenzen in der ästhetischen Sensibilität zwischen dem Westen und dem Osten reflektiert.

Die Aufführung fängt mit einem Lichtspiel an. Auf den Vorhang wird eine immer schwärzer werdende geometrische Animation projiziert, bis der ganze Saal in Dunkelheit getaucht ist. Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf einen benebelten Bühnenraum, in dem die Umrisse einer minimalistischen Szenografie zu erahnen sind. Auf den schräg aufgestellten Podesten werden sich später die Performer*innen bewegen (Jessica Gadani, Cassie Augusta Jørgensen, Adam Linder, Tatiana Saphir). Anfangs sind die einzigen Lichtquellen die grünen Notausgangbeschilderungen. Bei näherem Betrachten erkennt man jedoch, dass es sich um animierte Videos auf kleinen Bildschirmen handelt, in denen die Figuren und Pfeile abwechselnd in verschiedene Richtungen zeigen. Parallel dazu ist ein dröhnender Sound zu hören, dessen tranceartiger Rhythmus mit viel Bass und wechselnden Frequenzen die düstere Atmosphäre akustisch mitbestimmt (Musik: Melika Ngombe Kolongo-Niksi). Der erste Auftritt der Performer*innen ist eine Choreografie, die Ballettbewegungen mit Elementen des Hip-Hop vereint und mechanisch wirkt. Das choreografische Vokabular generiert eine Vielfalt an Figuren und Konstellationen, die auf unterschiedliche Tanzstile verweisen und mehrdeutige narrativ-assoziative Ebenen hervorrufen. Eine historische Tanzfigur, die re-inszeniert wird, basiert beispielsweise auf Gesten, die an die Arbeit „Lamentation“ von Martha Graham erinnern, in der Graham in einem schwarzen Kostüm tanzt. „Während schemenhafte Roboter zu sanfter Harfenmusik tanzen“, liest man dazu im Programmheft, „tauschen Martha Graham und Königin Isabella im Dämmerlicht Zärtlichkeiten aus.“ (Dramaturgie: Petra Poelzl) Ein besonders beeindruckendes Ereignis ist der Moment, in dem die Perfomer*innen drei große Spiegelflächen auf das Publikum richten, wodurch die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum unterlaufen wird.

Das dynamische Spiel zwischen Licht und Schatten, welches die Aufführung bestimmt, erzeugt rauschhafte Wahrnehmungseffekte, was letztendlich zu dem Eindruck führt, man wäre in einem kryptischem Traum, dessen Bedeutung nicht so einfach zu dechiffrieren sei (Licht: Joseph Wegemann). Wenn man den Performer*innen am Ende auf die Straße vor dem HAU folgt und dort beobachtet, wie sie einen Baum in einen Topf pflanzen und gießen, wird man plötzlich wieder wach und sieht sich mit dem aktuellen ökologischen Desaster konfrontiert. In mehreren Szenen tragen die Performer*innen eine weiße Flagge, auf der das Bild eines schwarzen Mondes abgebildet ist. Auf die Rückwand der Bühne projizierte Ausschnitte aus dem ikonischen Film von Georges Méliès „Die Reise zum Mond“, oder das von den Performer*innen gesungene Lied von Frank Sinatras „Fly me to the moon“ geben klare Hinweise zur thematischen Rahmung. Der Mond figuriert in diesem Zusammenhang als Sinnbild „der territorialen Expansion der westlichen Kolonialmächte“ (Programmheft) aber auch als genuiner Ort der Imagination sowie Darstellung einer utopischen Gegenwelt. Wie man in sämtlichen Lexiken der Symbole nachschlagen kann, symbolisiert der Mond ein weibliches Prinzip und ist ein Darstellungsmittel starker Emotionen, die durch den Verstand und die männlich kontrollierte Ordnung verdrängt und diszipliniert werden. Ein wichtiges Inszenierungselement in „Moonstruck“ sind daher genderfluide Verkörperungen, die eine klare Einordnung in binäre Geschlechterkategorien wiederlegen und stattdessen Bilder von Androgynität und Affektivität hervorrufen. Als leidenschaftliche Apologie der Dunkelheit bringt „Moonstruck“ das Schattenhafte ans Licht und verwandelt es in ein begeisterndes ästhetisches Ereignis. Indem Ashbel und sein Team mit performativen Mitteln gender-, ökologie- und machtkritische Themen aufgreifen, entfalten sie phantasmagorische Welten, in denen das Potential für den Widerstand im Herzen der Finsternis situiert ist. Es ist ein Aufstand der Schatten gegen die bedrohende Herrschaft und Illusion des Sichtbaren.  


“Moonstruck: In Praise of Shadows” — Regie: Ariel Efraim Ashbel / Von und mit: Jessica Gadani, Cassie Augusta Jørgensen, Adam Linder, Tatiana Saphir / Musik: Melika Ngombe Kolongo (Nkisi) / Kostüme: Marquet Lee / Kostümassistenz: Kristjana Björg Reynisdóttir / Licht: Joseph Wegmann / Bühnentechnik: Jonas Droste / Dramaturgie: Petra Poelzl / Regieassistenz: Katharina Joy Book / Produktion: Anna von Glasenapp / Dank an: Ethan Braun, Alona Rodeh, Senthuran Varatharajah.