„Das Sein – Ruinen“, 4RUDE ©Nora Novak

Spuren des Seins

Die Gründer*innen der Theater-Butoh Company 4RUDE, Hikaru Inagawa und Maco, zeigen vom 18. bis 21. November 2021 gemeinsam mit zwei weiteren Performer*innen ihre neue Arbeit „Das Sein – Ruinen“ im Theater im Delphi.

Das ehemalige Stummfilmkino in Weißensee, welches durch die Fernsehserie „Babylon Berlin“ weltbekannt wurde, bietet mit seinem Charme vergangener Zeiten dem Stück der 4RUDE-Company einen thematisch wie ästhetisch passenden Rahmen. „Die Erinnerung an das alte Gebäude vergegenwärtigt die Betriebsamkeit alter Tage, in denen es als gesellschaftlicher Treffpunkt florierte“, heißt es im Programmheft. Wenngleich die Idee der Ruine als verlassenes altes Gebäude in der Performance über die konkrete Örtlichkeit sowie Weltlichkeit hinausgeht, spannt sich hier bereits ein stimmiger Bogen. Für „Das Sein – Ruinen“ führten Hikaru Inagawa und Maco gemeinsam Regie und standen mit Adina Mohr und Rareș Grozea, welche regelmäßig an Kursen und Workshops von 4RUDE teilnehmen, zusammen auf der Bühne.

Drei große, flache Podeste mit jeweils einem Stuhl in der Mitte unmittelbar vor dem Publikum sowie der schmale Bühnenraum vor der markanten Steinwand des Delphi bieten den vier Performer*innen Spielfläche für die einstündige Performance. Sie tragen zunächst weite Gewänder, haben Gesicht wie auch Körper geweißt und die teils langen, dunklen Haare offen. Große Stoffe und Tücher, wie sie beispielsweise als Abdeckung von Möbelstücken in verlassenen Häusern, zum Schutz vor Staub, genutzt werden, spielen immer wieder eine zentrale Rolle im Stück. Ein schwarzes, sehr langes Tuch wird durch die sich darunter bewegenden Körper immer wieder neu zum Leben erweckt. Zu Beginn formt es sich zu einem hohen Turm, der ins schier Unendliche zu wachsen scheint, wenn sich Hikaru Inagawa darunter nach und nach aus einer gekrümmten Körperhaltung auf einem ebenfalls verhüllten Stuhl stehend, aufrichtet. Wir sehen eine bewegte Form im Raum, die nichts Menschliches hat und doch ein klares Eigenleben. Im Wandel fließt diese Form des Turms in die Breite, wenn – so erklärt es das rationale Verständnis – Hikaru Inagawa die Arme nach links und rechts ausgestreckt öffnet und auf Schulterhöhe bringt. „Der Ausdruck des Butoh beinhaltet nicht nur, organische Wesen, etwa Menschen, Tiere oder Pflanzen zu tanzen, sondern auch anorganische Materialien, zum Beispiel Staub, Glas, Holz oder Nebel als Material für den Tanz zu verwenden. Die seelische Dimension dieser Objekte wird im Tanz ausgedrückt“, können wir treffend formuliert dazu im Begleitheft lesen.

Das Stück „Das Sein – Ruinen“ nimmt uns mit in eine teils ruhige und mystische, teils erschreckende und aufrüttelnde Fantasiewelt, die maßgeblich von Maco gestaltet und gehalten wird. Ihre kraftvolle wie auch faszinierende Präsenz auf der Bühne wird mit der Rolle der Ruine beschrieben, und zugleich sehen wir in ihr die alte Frau, die als Seele des gesamten Gebäudes aus einem tiefen Schlaf erweckt wird, wie es im Programmheft ebenfalls heißt. Durch die Form des Butoh, welche sich von der rationalen Narration sowie westlichen Darstellungsnormen löst, finden wir uns in einem komplexen Geflecht aus Szenen und Zeitlichkeit wieder. Die Präsenz der Performer*innen ist dabei immer wieder auf den konkreten Moment gerichtet und es braucht nicht viel körperliche Bewegung, um ungemein ausdrucksstark den Raum mit ihrer Körperlichkeit zu füllen. Die Aufmerksamkeit scheint bedingungslos auf das Jetzt fokussiert zu sein und macht einen bestimmten Bewusstseinszustand für die Performer*innen körperlich erfahrbar sowie für uns als Publikum im Zuschauen erahnbar. Es ist wie ein durchdringen Wollen dieses momentanen Seins, wenn Maco beispielsweise ganz langsam mit ihren Händen über ihr Gesicht fährt und die Geräuschkulisse des Uhrentickens sowie eines unbestimmbaren Rauschens die Spannung dieser Situation akustisch verstärkt.

Die Körpersprache in „Das Sein – Ruinen“ ist immer wieder von Brüchen und Krümmungen geprägt. Tanzgeschichtlich gesehen hat sich das Butoh von der dominanten westlichen Balletttradition, aber auch den erstarrten Formen des traditionellen japanischen Tanzes abgegrenzt, als es in der avantgardistischen Subkultur der 1950er und 60er Jahre in Japan entstand. Neben der Langsamkeit der Bewegungen und einer Entindividualisierung des Körpers, ist die Expressivität der Posen bis hin zur Groteske typisch für diese Form des Tanztheaters. Auch in der Arbeit von Hikaru Inagawa und Maco finden wir diese Elemente. Immer wieder sind es verschränkte Arme vor dem Gesicht, angewinkelte und krumme Beinstellungen oder abgespreizte Finger bei den vier Performer*innen, die als charakteristisch auffallen. Dabei stehen sich oftmals zunächst langsame, behutsame Bewegungen und plötzlich hereinbrechende, zackige Ausführungen gegenüber. Mit dem Gefühl der inneren Dringlichkeit dieser überraschenden Impulse kommt jedoch gemäß der Butoh-Philosophie keine nachvollziehbare Erklärung, was den Stimmungswandel begründet haben könnte, einher. Es ist das unvermittelte Einbrechen ins Geschehen des Moments, welches versucht, uns dessen Textur und Beschaffenheit, aus einer dem Bruch geschuldeten Distanz, greifbar zu machen. Was bleibt, sind Spuren und kraftvolle Bilder eines möglichen Seins, losgelöst von festgelegter Zeitlichkeit.


„Das Sein – Ruinen“ der Theater-Butoh Company 4RUDE ist noch dieses Wochenende, am 20./21. November 2021, jeweils um 20 Uhr im Theater in Delphi (Gustav-Adolf-Str. 2, Berlin-Weißensee) zu sehen.