Leyya Mona Tawil zeigt die überzeugende Berlin-Version ihres Tanzzerstörers „Destroy” zur Spielzeiteröffnung im Ballhaus Naunynstraße.
Vier Elemente: Vertikale, Horizontale, Diagonale, Spirale – das Grundgerüst des Tanzes. Und gleichzeitig das Material, das Leyya Mona Tawil in „Destroy // After the Last Sky / Berlin” braucht, um den Tanz zu zerstören und am Ende nichts als eine Stimmung zu hinterlassen: Acht Menschen (sechs Tänzer*innen, zwei Musiker*innen) an die hintere Bühnenwand gelehnt, sitzend in sich gesunken oder gefaltet, stehend, das Gewicht des Körpers an die Wand abgebend, eher ungläubig desillusioniert, gewahrwerdend vielleicht – weniger erschöpft und verzweifelt, obwohl ihre Haltung auch dafür stehen könnte.
Manuela Tessi fällt der Pony in die geschlossenen Augen, sie hängt in sich wie ausgeschnitten aus einem Wolfgang-Tillmanns-Foto, genau gezeichnet in einem nicht bezeichnenden Moment. Fadi Waked hat sich mittig zwischen die zwei Trägersäulen geklemmt, die schwarze Mähne fällt als Vorhang über seinen leicht weggedrehten Rumpf. Sie hat etwas Behütendes, keine Spur von Koketterie. Ich könnte ewig hinschauen. Ein Fries, das die Wand trägt, nicht umgekehrt. Der konzentrierten Stille im Saal nach zu urteilen, geht es anderen auch so.
Die Choreografin Leyya Mona Tawil, syrischer und palästinensischer Herkunft, in den USA aufgewachsen, hat schon des Öfteren in Berlin gearbeitet, „Destroy”, das 2012 in San Francisco uraufgeführt wurde, könnte der Durchbruch sein. Im Titel trägt das Stück, da es mit einem jeweils ortsspezifischen Cast getanzt wird, den Ort seines Reenactments. In diesem Fall ist der Stücktitel auch mit dem Namen des Festivals, zu dem es eingeladen wurde, verschmolzen: After the Last Sky – Transgressing Boundaries of Palestinian Life and Identity als Spielzeit-Eröffnung des Ballhaus Naunynstraße.
After The Last Sky lässt an den vielzitierten Titel eines Buches über palästinensische Lebensentwürfe des Literaturtheoretikers und Orientalismus-Kritikers Edward Said denken. Der Titel ist allerdings selbst ein Zitat aus einem Gedicht des palästinensischen Identitätsdichters Mahmud Darwisch. Diese Genauigkeit herzustellen liegt den Kuratorinnen Anna-Esther Younes, Pary El-Qalqili und Nadja J. Kabalan offensichtlich am Herzen, denn sie leiten ihren kuratorischen Text für die Festival-Programmzeitung mit dem entsprechenden Darwisch-Zitat ein: „Where will we go after the last frontier? / Where will the birds fly after the last sky?”. Die Zeilen stammen aus dem Gedicht „Die Erde wird zu eng für uns“, das dem Band „Weniger Rosen” entnommen ist, erschienen 1994 in Beirut. (Ich verwende hier die deutschen Titel den Übersetzungen von Stefan Weidner folgend.) Die Stimmung, die dieser Gedichtbezug im Titel auslöst, ist stark. Sie bestimmt mein Zuschauen, obwohl ich versuche, mich dagegen zu sperren. Trotzdem scheint sie unverrückbar in die formalistische Bühnensituation eingegossen. Eine atmosphärische Gussform.
Sechs Tänzer*innen, alle in schwarz-grauen Alltagskleidern, zunächst dicht vor dem Publikum (mit dem Rücken zu uns) in eine Linie aufgereiht, dann in unterschiedlichen Tempi den Raum bis zu Hinterwand durchschreitend. Spüren, was ist. Rückwärts zurück, die Blickrichtung bleibt Richtung Wand, die Wand ist schon längst Grenze geworden. Für denjenigen, der nicht weiß, was sich dahinter befindet, ist jede Grenze die letzte. Bei jedem wiederholten Durchschreiten wird der Raum enger. Mike Khoury schlägt die Seiten seiner Violine an wie harte Muskelstränge, die Glissandi jaulen, ohne zu jammern, die elektronischen Sounds von Dirar Kalash antworten zunächst, dann steuern sie gegen. Im Raum wird die Diagonale eröffnet, Prinzip des Bruchs. Die Spirale übernimmt, Verdichtung der Enge. Ab und an, im Auge des Orkans, wachsen den Tänzer*innen Tragflächen aus den Schulterblättern, sie balancieren sich in die Luft. Aber sie trägt sie nicht (wie die Luft über den palästinensischen Gebieten, von denen aus kein Flugzeug abheben kann?). Scheinbar endloses Um-sich-selbst-Kreisen, erst synkopisch (der Rumpf setzt die Drehung an, der Kopf kommt in einem zweiten Impuls nach), dann propellerartiges Köpfekreisen. Oder wie tibetanische Gebetsmühlen. Bis die Tänzer*innen den Herausforderungen des Tanzes unterliegen und ausgespuckt werden.
Aber dieses Ausgespucktwerden ist nicht existentiell zerstörerisch. „Destroy” bildet keine Apokalypse ab. Vielmehr deutet es im Nachhallen ein evolutionäres Prinzip an. Das zerstörte System befördert den Körper in ein Jenseits seiner Statik, in eine Neu-Verortung, wenn auch nicht in ein Jenseits der Grenzen. Die Wand bleibt, die Perspektive fehlt – eine fast nur transzendental zu ertragende Tragik. Es ist diese Mischung aus Energie und Vakuum, aus Konstruktion und Wirklichkeit – verbunden mit einem akkurat formulierten tänzerischen Prinzip – die das pathosfreie „Destroy” so eindringlich macht. Als sich im nachfragenden Gespräch herausstellt, dass der Tänzer Fadi Waked, der die Stimmung des Stücks für mich am meisten einfärbt, palästinensischer Syrer ist, der im letzten Jahr über die Balkanroute nach Deutschland geflüchtet ist, bekommt „Destroy” eine fast erdrückende Relevanz.
Weitere Tanzvorstellungen im Rahmen von After the Last Sky:
„Atlas”: Eine Performance von Leyya Mona Tawil and Mike Khoury, 14. September 2016, 20:00 Uhr
„Ajal”: Ein Tanzstück der Sareyyet Ramallah Dance Company Palestine, 7. Oktober 2016, 20:00 Uhr