Ein guter Berlin-Einstand: Bahar Temiz bei der aktuellen Ausgabe von 3 AM, dem selbstorganisierten Performance-Event im Künstlerhaus am Flutgraben.
3 AM ist das derzeit lässigste Selbstausbeutungsprojekt der Berliner Tanzszene. Eine jener Rahmungen von Szene, die in den besten Momenten das Gefühl aufkommen lassen, Teil von etwas zu sein, das später in der Erinnerung als ein Sehnsuchtsort erscheinen wird. Genauso wie wir gerne bei Warhols Factory dabei gewesen wären, wird es denen nach uns mit 3 AM gehen. Zweifellos eine etwas vermessene Einordnung, aber schließlich muss es jeder einmal mit einem Beitrag zur Legendenbildung versuchen.
Mit der Außengalerie fängt es an, vor allem jetzt, im Gerade-Noch-Sommer. Da steht man – nach dem Erklimmen der Eingangsstufen oder zum Rauchen oder bevor man sich mehr oder weniger übernächtigt auf den Nachhauseweg macht – und starrt selbstmörderisch ins schwarze Spreewasser und gleichzeitig auf die Partybuden gegenüber. Beim Freischwimmer schunkeln Leute zu versumpften Beats unter einem aus dem Blätterdach eines Baums hängenden Kristalllüster. Verzauberte Elfen, Kollektive von Fahrraddieben vor Schichtbeginn. Welch ein Panorama! Man steht da und dankt all den Leuten, die sich im richtigen Moment Orte angeeignet haben, deren Flair, wenn es sich erst einmal voll entfaltet hat, unbezahlbar ist. In diesem Fall dem Flutgraben e.V., der sich den Atelierkomplex am Arena-Areal in Treptow gesichert (?) hat. Und vor allem Dmitry Paranyushkin, Clément Layes, Jasna Vinovrski, Sandra Man and Nina Kurtela, den Ermöglichern von 3 AM, die mithilfe wechselnder Kurator*innen und eines Netzwerks aus Freiwilligen alle paar Wochen ein gratis zugängliches Showcase für Performances und Experimente schaffen, vor allem aber einen Place to be.
Letztes Mal war das Matschkartoffel-Gastmahl an langen Rittertafeln in nur durch Schäfchenwolken aufgehellter Dunkelheit mein Highlight. “Abandon your form”, schrien beschürzte Kellner*innen und ließen brachial ihre Faust auf die mehlig-ergebene Erdfrucht sausen – nicht ohne ein Tütchen grüne Koriandersoße als Beilage zu servieren. Passend zum Kartoffel-Masochismus tranken wir Gin-Apfelsaft-Schorle… Dieses Mal, wie immer sonntags, bleibe ich wiederum an Materiefantasien hängen, jenen von Bahar Temiz, die aus der Türkei über lange Stationen in Frankreich und Belgien vor kurzem nach Berlin gekommen ist und ihren Materialtanz “In Love” als Einstand zeigt.
Performative Equestrik
Es geht um die Entstehung eines Pferds, und dann darum, das Pferd erst einmal einzufangen und später – über einige Eskapaden und einiges Kräftemessen hinweg – zu zähmen. Die Liebe, das Pferd. Bahar Temiz ist eine Mischung aus Haut des Tieres, Darm des Tieres, Tierbaukasten-Zusammensetzerin, Zirkusdirektorin, Cowgirl, Nō-Tänzerin und spanischer Carmen – wobei vielleicht nicht alle Rollen unmittelbar etwas mit dem Pferd zu tun haben. Ihr Verfahren scheint emergent, die Dramaturgie aus der Materialfantasie gewonnen. Die Entfaltungen der Bilder, ihre ästhetischen Schnittstellen und ihre räumlichen Setzungen wirken gegriffener als die Symbolik, die sie transportieren. Das ergibt mitunter einen Widerspruch, der, wie ich es von Kolleginnen erfahre, zum Widerstand führen kann. Warum diese ecru-farbene Stola über etwas ausgestellt wirkendem nacktem Oberkörper mit der seltsamen Abu-Ghraib- oder Ku-Klux-Klan-Kapuze? Warum diese Domestizierungsklischees eines Cowgirls?
Ich sehe es spielerisch und gönne der Symbolik ihre Unabgesichertheit. Die Kapuze ist der Pferdekopf, Blesse und Schnute bilden später Omas Häkeldeckchen. Es geht zu wie in den Geschichten von Bruno Schulz, wo der Hausrat in den Abendstunden ein Eigenleben entfaltet und “zum Formen verlockt”. Zuerst das gesteifte Laken, das – kunstvoll entfaltet – eine abstrakte Peristaltik entwickelt, von der die Performerin verschlungen wird und in diesem Menschenverhüllen alsbald an ein trojanisches Pferd erinnert. Die Geburt eines Bildes. Aus ein paar Brettern entsteht ein simpler Korpus auf Rollen, ein angerostetes Stativteil deutet den Hals an (Skulptur Ceylan Dökmen). Ein Karussellpferdchen. Aber auch ein Wildfang, der erst einmal mit einem Lasso eingefangen werden muss. Später jener Gruselmoment der Kindheit, in dem das Tierchen aus der Zentripetalkraft der Mechanik auszubrechen scheint und freie Fliehkräfte das Kind mit sich davontragen wollen. Die Kippfiguren, die sich aus dem Inventar entwickeln, ließen sich auch anders lesen, aber Bahar Temiz entscheidet sich für die Liebesmetapher, in die sie auch ihr Publikum charmant verwickeln wird. Der Spielcharakter schützt dabei vor allzu starker Symbolik, die exakt ausgeführte Kybernetik verleiht den Szenen Installationscharakter, ohne sie an ihre Mechaniken zu versklaven.
Dass Temiz in Berlin demnächst mit Felix Matthias Ott zusammen arbeiten wird, verwundert nicht. Eine Allianz der Materialtänzer. – Eine Erkenntnis am Rande: Es lohnt sich unbedingt, im Zusammenhang mit der Neuen-Materialismus-Strömung im Tanz Bruno Schulz’ “Traktat über die Mannequins” zu lesen. “Wir wollen Schöpfer in unserer eigenen niedrigen Sphäre sein (…), wir fordern schöpferische Wollust, wir fordern mit einem Wort – Demiurgie”. Und die Zeichen stehen gut: Gestern wurde bekannt, dass 3 AM für 2017 Mittel aus der spartenübergreifenden Förderung des Senats erhält. 70 000 Euro für Pferdefutter.
Nächste Termine mit Bahar Temiz: “Meditation on Non Destruction” von Felix Matthias Ott, 29. – 31. November 2016 in der Tanzfabrik Berlin / Wedding.