„Sisters of Algolore“, Deva Schubert ©Philip Weinrich

forevererest. mountainrest. Zukünftige Erinnerungen vergangener Auflösungsschwankungen

In Deva Schuberts „Sisters of Algolore“ (28.-30. Januar 2022 im radialsystem) werden Synthetisches und Organisches zu einer spekulativen Klang- und Bewegungslandschaft verwoben – und zwischen Alphorn und Algorithmus entsteht eine Bedeutungsverschiebung jenseits von Dystopie und Utopie.

Ein sanftes, warmes Jodeln empfängt das Publikum im Saal des radialsystem. Drei Performer*innen und die Musikerin sitzen bereits, ihre Rücken uns zugewandt, im Bühnenraum. Haare werden geflochten, die Blicke der Performer*innen richten sich verträumt auf die hintere Bühnenwand, auf einen unsichtbaren Horizont – auf eine verklärte Vergangenheit oder doch vielleicht auf eine ferne Zukunft, eine unbestimmte Sphäre des Nicht-mehr und Noch-nicht? Die Kostüme deuten letzteres an: Hybride aus Lokaltradition und Technofuturismus, changierend zwischen alpiner Folklore und globalem Hightech.

Als sich das Publikum niedergelassen hat, beginnen die drei Performer*innen Deva Schubert, Juan Felipe Amaya Gonzalez und Anja Müller den Bühnenraum abzuwandern und sich in Paaren oder im Trio zusammenfindend mit ausholenden Gesten zu jodeln – Schreie, die eher an akustische Warnsignale erinnern und damit auch an die mythologischen Sirenen, die, halb Mensch, halb Vogel, ihr Wissen über Vergangenes und Zukünftiges in einem verführerischen Gesang mitteilten und Seefahrern das Leben kostete.

Die Musikerin (Marie Lynn Speckert) steht irgendwann auf und zieht aus einem Hinterzimmer eine große Maschine hervor. Unbeeindruckt von den Performer*innen beginnt sie daran herumzubasteln. Auch Deva Schubert verschwindet ins Hinterzimmer – und kommt mit einem riesigen Alphorn wieder heraus, das nun mit dem technischen Apparat verkabelt wird. Die auf der Bühne positionierten Screens gehen an und wir lesen: „Servus“. AGNES, das Alphorn, kommuniziert mit uns: „Longing for tender connections“. Und beginnt gleichzeitig einen Rhythmus zu erzeugen: „AGNES is ready to pair. – Activating memory“ – langsam wird klar, wer in diesem Stück die zentrale Figur ist: AGNES.

Schon in Deva Schuberts Abschlussarbeit „ASSEMBLY“, die 2020 ebenfalls im radialsystem gezeigt worden war, stand das Alphorn im Zentrum der Performance. Auch hier nutzte sie das traditionell-alpine Musikinstrument, um es spielerisch, mithilfe von digitaler Technik, neu zu kontextualisieren. In „Sisters of Algolore“ hat das Alphorn nun dank künstlicher Intelligenz „sprechen“, jodeln und musizieren gelernt – und wird um eine weitere alpine Tradition ergänzt: das Goaßlschnalzen. Dieses traditionelle Peitschenschlagen aus dem Grenzgebiet zwischen Bayern und Salzburger Land, dessen lautes, melodiöses Knallen ursprünglich neben seiner Funktion als Warnsignal rituell dazu diente, die Kälte des Winters zu vertreiben. Hier dient es als ein weiteres choreografisches Element, aber weniger um es als Brauchtum auszustellen, sondern um es neu zu befragen, indem es in einen Dialog zwischen Körper, Tradition und Technik eingebettet wird. Welche Spuren haben lokale Traditionen, volkstümliche Bräuche und ihre Gesten in unseren Körpern hinterlassen? Wie können sie in unsere postmoderne Gegenwart und in eine offene Zukunft übertragen werden? Sind sie gemeinschaftsstiftend oder wirken sie doch vereinzelnd? 

Dieses Spiel mit scheinbar Vergangenem und potentiell Zukünftigem durchzieht die einzelnen Szenen, die sich sonst eher unverbunden aneinanderreihen. Angedeutete Spuren traditioneller Tänze bei Juan Felipe Amaya Gonzalez finden sich neben scheinbar fehlprogrammierten, stotternden Bewegungssequenzen. In einem ruhigen Solo von Deva Schubert sehen wir geglitchte Bewegungen, die zwischen Schärfe und Unschärfe pulsieren, deren Formen in amorphe Bildpixel zerfallen. Als Störungsereignisse irritieren sie den gewohnten Ablauf einer algorithmischen Übertragung bewegter Bilder und verweigern sich deren eingefahrener Bedeutungen. Und lassen so eine andere Zeitlichkeit an die Oberfläche treten – eine spekulative Bild-und Klanglandschaft, jenseits von Verklärung und Verdrängung, jenseits von Dystopie und Utopie. Auch eine Sequenz, in der das Spiel mit misstrauten vertrauten Wörtern wie „Heimat“, aus der eine „problematic Heimatsituation“ wird, ins Unvertraute kippt, gehört in diese Neuverhandlung von Traditionen. Aus einem Beziehungsgeflecht zwischen widersprüchlichen, singulären Identitäten könnte so eine andere Gemeinschaft entstehen. Und vielleicht liegt hier doch ein utopischer Moment der Performance: sie fantasiert eine zwanglose Gemeinschaft der heterogenen Ko-Existenz – in AGNES` Worten: „I do contain pluralities“.


„Sisters of Algolore“ von Deva Schubert (Premiere: 28. Januar 2022 im radialsystem) ist noch heute, am 30. Januar 2022 um 17.30 Uhr zu sehen, Tickets unter radialsystem.de.