In heteronormativen Familien werden die Strukturen häuslicher Gewalt oft über Generationen reproduziert, bis der Ausbruch gelingt. Von einem Entkommen berichten Rachael Mauney und Telmo Branco bei der Premiere von „Matrilineal“ am 21. Januar 2022 im AckerStadtPalast.
Ein weißer Bodenbelag füllt den ebenerdigen Bühnengrund, in dessen Mitte ein Ensemble aus Tisch, Stuhl und Notenpult platziert ist. Die scharfen Metallkanten des Tisches bilden einen länglichen Quader, rastern ihn. Auf der Tischplatte liegt eine Box mit Mikrofon und einem kleinen Synthesizer, am Rand steht eine leere Glasflasche. Hinter dem Tisch befindet sich der gepolsterte Stuhl und direkt an seiner Seite das hölzerne Pult. Das Licht im Publikum ist gedimmt und ein Lichtkegel trifft auf die Mitte der Bühne, als Telmo Branco in rotem Gewand die Bühne betritt, auf dem Stuhl Platz nimmt und beginnt, ins Mikrofon zu sprechen. Links vom Tisch steht Rachael Mauney in einem schwarzen Trägerkleid, das nur eine Brust bedeckt.
Mit leiser Stimme erzählt Branco von der Großmutter, die als immer schwerer werdender Stein einen Abgrund hinabrollt. Die hohe Geschwindigkeit ergibt sich aus der Gewalt, die sich in ihrem Körper anreichert, wie in einem Container: the body is a container of its violence. Als der gewalttätige Ehemann der Großmutter stirbt, ist diese zunächst erleichtert, glorifiziert den Verstorbenen jedoch im Nachhinein und romantisiert die Erinnerungen an die gemeinsame Ehe.
Branco schlägt mit einem Stift gegen die Glasflasche, loopt das Klirren und die Stimme mittels Synthesizer. Ein schriller, brummender Sound erklingt aus den Lautsprechern. Rachael Mauney wackelt mit der rechten Hand an der entblößten linken Brust, klopft auf den Brustkorb, schlägt und tritt um sich, duckt sich, blickt mit aufgerissenen Augen nach oben. Branco spricht von Kindern, deren Lebensraum von gewaltvollen Männern beherrscht wird, den Familienoberhäuptern.
Mauney stellt sich neben den Tisch, stülpt sich einen Jutesack über den Kopf, bedeckt ihn mit einem weißen Schlapphut. Dann streift Mauney das Kleid ab, es sinkt zu Boden. There is a history of women in my family. Mauney steht nackt auf dem Tisch und schreit, wiederholt den Satz. Fügt hinzu, dass sich die Wiederholung häuslicher Gewalt wie eine Krankheit ausbreitet, zu einer Identität wird, die in Angst und Kapitulation mündet. Doch Mauney möchte sich dem nicht mehr ausliefern und steigt vom Tisch: No longer surrender. Branco wiederholt den Satz und fügt hinzu, dass die Krankheit bekämpft und Widerstand geleistet werden muss. Branco fungiert als Stimme von Mauney, erzählt Mauneys Geschichte.
Gemeinsam berichten Branco und Mauney von Mauneys Mutter, die ebenso wie die Großmutter ein romantisiertes Bild von der Ehe hat. Sie fürchtet sich vor vermeintlichen Feinden, obwohl ihr größter Feind, der gewaltvolle Ehemann, neben ihr im Bett schläft. Während Branco singt, klopft sich Mauney weiter auf den Körper, kniet, schüttelt die Brust, streckt die Beine von sich. Die räkelnden Bewegungen erinnern mich an habitualisierte Verführungsriten, die auf die Erwartungshaltung eines männlichen Blicks referieren. Mauney schreit. Das Schreien mischt sich mit den lauten Loops aus den Lautsprechern. I carry on. Mauney liegt nun flach auf dem Boden, legt Hut und Jutesack ab. Das Gesicht ist errötet von schnellen Bewegungen, Schreien und der stickigen Luft unter dem Sack.
Das Licht ist nun wieder auf den Tisch gerichtet, an dem Telmo Branco singt: I’m the one who crawls through the fire. Im Schatten zieht sich Rachael Mauney Kleidung an, eine dunkle Hose und ein silbernes Hemd. Sack und Hut liegen wie eine abgestreifte Hülle auf dem Boden. Mauney spricht ins Mikrofon, dass das Gewicht der Mutter und Großmutter auf den eigenen Schultern lastet. Dass sich die Gewalt durch das Leben der Ehefrauen zieht in den drei, vielleicht sogar in den 30 oder 300 vorherigen Generationen. Sie haben es an ihre Nachkommen weitergegeben. Doch Rachael Mauney möchte den Zustand nicht normalisieren. Mauneys Körper wird sich der patriarchalen Herrschaft nicht beugen.
Telmo Branco steht auf, überlässt Rachael Mauney den Platz und setzt sich im Dunkeln mit einem Stuhl und Zettel in den Händen vor das Publikum, mit Blick auf die Bühne. Jetzt wandelt sich die Erzählweise der Aufführung in eine Interviewsituation. Branco interviewt Mauney und stellt Fragen zu den vorangegangenen Äußerungen: To whom where you talking to? Mauney beantwortet die Fragen zu der dysfunktionalen Familie und zu den Frauen, die sich den Strukturen gefügt haben. Mauney selbst erklärt, dass they schon immer unangepasst und queer gewesen ist. Queerness, Hoffnung und die Idee, sich selbst und andere Menschen zu lieben, haben Mauney geholfen, gut für sich zu sorgen, von anderen umsorgt zu werden, und nicht so zu werden, wie die Frauen in der Herkunftsfamilie.
Am Ende stellt sich Telmo Branco auf den Stuhl und Mauney gesellt sich dazu, sie umarmen einander. I’m the one who crawls through the fire, through desire, I’m the one burning, in hopeful riot. Ihre Körper zittern.
In „Matrilineal“ widmen sich Rachael Mauney und Telmo Branco einem Thema, das heikel ist. Heikel deshalb, weil häusliche Gewalt so viele Familien betrifft und zu viele Menschen darüber schweigen müssen oder denken, darüber schweigen zu müssen, aus Angst, Scham oder Ohnmacht, die aus dem täglichen Austarieren zwischen Anpassung, finanziellen und emotionalen Abhängigkeiten entstehen kann. Gewalt an Frauen und Femizide finden oft in (ehelichen) Beziehungen und innerhalb der Familie statt. Dadurch, dass Branco und Mauney die Geschichten der Mutter und Großmutter abwechselnd erzählen und die Schilderungen wenige Details enthalten, erhält das Trauma eine Allgemeingültigkeit: Das gewaltvolle Muster der patriarchalen Struktur lässt sich in vielen dysfunktionalen Familien wiederfinden – ich komme selbst aus so einer Familie.
Matrilinearität bedeutet, dass innerhalb einer Familie die Vererbung über die Frauenlinie geschieht. Die von Rachael Mauney und Telmo Branco vermittelte Begriffsauslegung bezieht sich auf eine „Weitervererbung“ einer von häuslicher Gewalt geprägten Lebenssituation über die mütterliche Linie. Häusliche Gewalt, ausgehend vom Lebenspartner oder Vater, zieht sich häufig über mehrere Generationen von als Frauen* gelesenen Menschen. Gestützt wird sie durch das Fortbestehen patriarchaler Macht. So finden sich Frauen in aufeinanderfolgenden Generationen häufig in gewaltvollen Beziehungen wieder, ihre Situationen werden „weitervererbt“. Als Analogie unterstreicht auch das Loopen, die Wiederholung der Klänge und gesprochenen Worte, die Reproduktion häuslicher Gewaltstrukturen, die oftmals rückblickend romantisiert und glorifiziert werden, um dem Schmerz der Erinnerungen zu entkommen und um die Abhängigkeiten aushalten zu können.
Doch das Schweigen schmerzt nicht nur in den Ohren, dieser Loop soll stoppen. Rachael Mauney passt sich nicht an, lässt den eigenen Körper nicht zur Projektions- und Angriffsfläche werden, spricht über das Trauma, leistet Widerstand und bricht aus. Mittels Hoffnung, Liebe und Queerness entwerfen Mauney und Branco ein resilientes und heilendes Gegenkonzept zu den omnipräsenten heteronormativen und patriarchalen Familienstrukturen. Diesen Entwurf geben sie ihrem Publikum, das an diesem Abend im AckerStadtPalast zusammengekommen ist, mit auf den Weg, denn die politischen, sozialen und kulturellen Strukturen, die häusliche Gewalt, patriarchale Macht und Rape Culture aufrechterhalten, müssen gemeinsam verändert werden. We’re the ones who crawl through the fire.
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA): https://www.hilfetelefon.de/gewalt-gegen-frauen/haeusliche-gewalt.html
Anonyme Beratung und Informationen des WEISSEN RINGS: https://weisser-ring.de/haeuslichegewalt
„Matrilineal“ – Konzept und Durchführung: Rachael Mauney, Sounddesign und Videografie: Telmo Branco. Premiere: 21. Januar 2022 im AckerStadtPalast. Weitere Vorstellungen am 22. & 23. Januar um 20 Uhr.