„Behind Fear“, Dragana Bulut ©Dorothea Tuch

Was steckt hinter der Angst?

Bei der Premiere von „Behind Fear“ am 2. Februar 2022 im HAU3 leiten Dragana Bulut, Caroline Neill Alexander, Tian Rotteveel, Mohanad Al-Rim und Nancy Meissner ihr Publikum dabei an, spürbare Symptome der Angst zu ergründen und lehren Skills, um die eigene Resilienz im Theatersaal zu stärken. 

Bevor das Publikum den Bühnenraum des HAU3 betreten kann, misst ein Sicherheitsbeauftragter (Tian Rotteveel) die Körpertemperaturen der Anstehenden. In dem schwarz gestrichenen Saal nehme ich in der ersten Reihe Platz und behalte die in Plastik verpackten Ohrenstöpsel, die am Eingang bereitlagen, in Reichweite – es wurden laute Geräusche und grelle Effekte angekündigt. Der Boden der ebenerdigen Bühne ist mit einem schwarzen, elastischen Tanzboden ausgelegt und trägt Spuren voriger Performances, helle Schrammen und Schlieren masern ihn. Im linken Hintergrund türmt sich ein deckenhoher massiver Berg aus roten, prall gefüllten und matt gepuderten Luftballons. Weitere Luftballons liegen vorne an der linken Wand auf dem Boden, hängen in Netzen von der Decke und bilden einen kleinen Haufen im rechten Hintergrund. Ein einzelner Luftballon schwebt rechts vorn an einer Schnur (Bühnenbild: Jonas Maria Droste). Mit den Ballons vor mir ahne ich, welchen Ursprung die angekündigten Geräusche haben werden. 

Links vor dem Ballonberg steht Nancy Meissner bereits in charakteristischer Security-Guard-Haltung – breitbeinig, die Hände vor der Körpermitte zusammengeführt – und beobachtet das hereinlaufende Publikum. Kurz darauf stoßen Caroline Neill Alexander, Tian Rotteveel und Mohanad Al-Rim dazu und stellen sich mit ihren Vornamen dem Publikum, für dessen Sicherheit sie laut eigener Aussage an diesem Abend sorgen würden, vor. Die vier Sicherheitsbeauftragten tragen uniforme schwarze Arbeitshosen und T-Shirts und stehen in einer Reihe vor der steilen Tribüne. Sie beginnen mit einem Bodycheck zur Sicherheitskontrolle. Den Bodycheck führen wir Zuschauer*innen im Publikum selbst aus. Mit geschlossenen Augen scannen wir die verschiedenen energetischen Zonen unserer Oberkörper, geleitet von Carolines Stimme. Sobald eine Zone gescannt und somit „clean“ ist, erklingt ein Piepton. Wir sollen die eigene Aura und die der Mitmenschen erspüren, um uns verbunden zu fühlen. Doch zugleich sind wir angehalten, ein imaginäres Schutzschild aufzubauen, das uns vor dem emotionalen Ballast der anderen um uns herum schützen soll. 

Dann geht das Licht aus. Die Luftballons fallen aus den Netzen auf den Boden und der Bühnenraum erleuchtet in einem stechenden Rot (Lichtdesign: Elliott Cennetoglu). Dragana Bulut, bekleidet in einem gelben Regenmantel mit aufgesetzter Kapuze, erscheint hinter einer Nebelwand und dreht an einer lärmenden Kurbel. Lautes, tiefes Brummen ertönt aus den Lautsprechern. Bulut nimmt einen Ballon und lässt ihn platzen. Das Studiolicht geht an. Caroline und ihr Sicherheitsteam prüfen das Szenario, sichern Spuren, zählen Ballons, die nun als Platzhalter für Menschenansammlungen dienen. Über ein Funksprechgerät tauschen sie sich untereinander aus, suchen nach Zeug*innen. „Are there any witnesses?“ Blicke aus dem Publikum erzeugen bei ihnen Skepsis, sie kommentieren die Tätigkeiten der Zuschauer*innen, auch meine: „Writing a notebook?“. Ich lächle verlegen hinter meiner FFP2-Maske. Die Sicherheitsbeauftragten nehmen eine unangenehme Stille im Publikum war. Caroline wirkt nervös, atmet schwer ins Funkgerät, teilt ihren Kolleg*innen mit, dass ihr Herzschlag sich beschleunigt. Tian beruhigt sie mit Atemübungen. 

Schüsse fallen, Sirenen heulen. Die Sicherheitsbeauftragten finden Blutspuren und rennen suchend umher und aus den Türen hinaus. Hinter mir knistern Plastiktüten. Die ersten Zuschauer*innen packen ihre Ohrenstöpsel aus. Dann erlischt der Warnton. Tian fragt uns, ob wir den Alarm gehört hätten – das Publikum bestätigt dies durch Kopfnicken – und warum wir dann nichts unternommen hätten. Ein*e Zuschauer*in beantwortet seine Frage damit, dass wir uns in einem Theater befänden. Doch Tian genügt diese Antwort nicht und hinterfragt, weshalb wir uns da so sicher wären. „We trust you“, beantwortet die Person aus dem Publikum und Tian schließt daraus, dass sich die Leben der Zuschauer*innen in den Händen der Sicherheitsbeauftragten befänden. Er geht auf die alarmierenden Geräusche und unsere Reaktionen ein. Beängstigen uns die Geräusche mehr, wenn wir die Augen schließen, nicht wissend, wo die Geräusche herkommen, oder verschwindet dann die Angst? Tian postuliert, dass wir die Akustik des Raumes testen müssten, um unsere Resilienz zu trainieren. 

Sogleich beginnen die Sicherheitsbeauftragten mit akustischen Übungen. Sie klatschen auf ihre Arme, streichen die Wände mit flachen Händen und schnipsen in der Luft. Nach einem lauten Knall heben sie Luftballons auf und lassen sie platzen. Die Sicherheitsbeauftragten werfen imaginäre Gegenstände hinter die Tribüne, denn die Gefahr lauere oft hinter dem Rücken. Im Off zerschmettern Gläser und hüpfen Tischtennisbälle. „The threat is where the sound is.“ Nun, da alle Zuschauer*innen zuhören, sollen wir uns von unseren Gedanken lösen. Tian zeigt auf einen Ballon, vergleicht ihn mit uns und unserem Nervensystem und lässt ihn platzen. Wir seien noch zu leicht reizbar. Er versucht, uns mit seinen Gesängen zu besänftigen. Gezupfte Bassgitarre begleitet ihn aus den Lautsprechern. Erneut hebt er einen Ballon auf und erklärt, dass wir Sicherheit in uns selbst finden sollten, um uns zu schützen und vorbereitet zu sein auf das, was kommen könnte. Das Signal eines Mikrofons übersteuert, verzerrtes Quietschen füllt den Saal, Hustgeräusche folgen. Spannungsgeladene Sounds ertönen und Tian schlussfolgert: „Something’s about to happen.“

Im gelben Regenmantel erscheint erneut Dragana Bulut und hält einen roten Luftballon. Ihr Gesicht ist durch die Kapuze verdeckt. Tian lenkt das Publikum mit einer Atemübung ab. Der Ballon platzt und die ersten zwei Zuschauer*innen verlassen den Saal, die Sicherheitsbeauftragten schließen die Türen. Im Publikum beginnen die Menschen, zur nun erklingenden elektronischen Tanzmusik zu wippen, doch Tian kommentiert zugleich, dass Musik gefährlich sei und zu allerlei schlimmen Dingen führen könne, unter anderem zu ungewollten Schwangerschaften, und empfiehlt: „Don’t move to the groove!“. Dragana Bulut schleift zwei große Messer aneinander, das Ratschen mischt sich im Takt mit dem Klang eines angespielten Saiteninstruments. Luftballons wirbeln von einer Windrose aufsteigend umher zur Mitte des Raums. Das Licht erscheint blau, dann weiß, dann wird es dunkel – ein Gewitter? Dragana Bulut wirft einen Luftballon aufs Publikum, woraufhin Caroline einschreitet und sie verjagt. 

Caroline überprüft die Gefühlslage des Publikums und fragt eine Zuschauerin, ob es ihr gut gehe. Die Frau antwortet, dass sie sich etwas außer Kontrolle gefühlt habe. Caroline wiederholt den Satz und hakt nach, wo genau das Gefühl in ihrem Körper zu lokalisieren sei. Es sei vom Solarplexus ausgegangen, einem Nervengeflecht in der Magenregion. Bevor es der Zuschauerin allzu unangenehm wird, schließt Caroline die Befragung mit der Erkenntnis, dass es nicht einfach sei, im Mittelpunkt zu stehen. Doch wenn wir unser Nervensystem trainieren, dann können wir jede Situation überstehen, ob wir von einem Löwen angegriffen werden oder einen imaginären Schrecken erleben. Caroline fällt auf, dass das Publikum verlegen zur Seite schaut, um den Blickkontakt mit ihr zu vermeiden und um nicht als nächstes angesprochen zu werden. Dies seien Vermeidungsstrategien und dagegen helfe nur eine Konfrontationstherapie: „I have some tools I want to share with you.“ Sie holt Alice, die Frau aus dem Publikum, auf die Bühne und gibt ihr eine Handsäge. Damit soll sie einen Luftballon zweiteilen. Anschließend kehrt die Zuschauerin zurück zu ihrem Platz. Es knallt erneut und das Licht geht aus.

Nun wird auch Caroline nervös. „What is going on?“, fragt sie ihre Kolleg*innen über das Handfunkgerät. Mit Taschenlampen durchleuchten sie den Raum, suchen etwas, ein Kabel. Sie sprechen mit den Licht- und Soundtechniker*innen auf der Tribüne. Der Lichtkegel einer Taschenlampe trifft auch in meine Augen. Andere Lichtkegel durchleuchten die Luftballons. Die leuchtenden, glühenden Ballons erinnern mich jetzt an medizinische Darstellungen von Nervensystemen, als träfen die Lichter direkt in unsere Körper. Dragana Bulut steht in der Mitte des Saals und bläst einen Luftballon auf, bis er platzt, und beginnt zu schreien. Das Schreien mischt sich mit dem schrillen Sound von Sirenen. Kunstblut tropft aus ihrem Mund. Caroline will die Situation deeskalieren und das Publikum beruhigen: „I’m here and I hear you.“ Wir sollen herausfinden, was hinter der Not steckt. Sobald das Licht ausgeht, beginnt Dragana Bulut erneut zu schreien. Der Lärm schmerzt und nun stopfe auch ich mir die Stöpsel in die Ohren. Caroline wendet sich Dragana Bulut zu und redet auf sie ein, doch sie läuft davon. Die Sicherheitsbeauftragten versuchen, sie einzufangen, werfen sie gewaltsam auf den Boden und sperren sie hinter die Türen. Auch der Zuschauer neben mir verlässt den Saal.

Auf dem Tanzboden liegen nun rote Gummifetzen und Blutstropfen. Caroline stellt fest, dass es so habe kommen müssen, dass es einfach zu viel gewesen sei. Sie seien da gewesen, um unser Erlebnis zu begleiten und zu schützen, doch sie glaube, dass sie versagt hätten. Während Caroline und Tian die Ballons zerbersten lassen, versuchen Nancy und Mohanad, die verbliebenen intakten Ballonhaufen zu retten. Als Letzte bleibt Nancy im fast leeren Saal. „All clear.“ Die lange Metallstange, die zuvor den Ballonberg an der Decke gehalten hatte, wankt nun langsam von links nach rechts. Auf dem Boden mischen sich die roten Spuren der heutigen Performance als Relikte mit den weißen Kratzern im Tanzboden. Aus dem Off zählt Caroline den Luftballonbestand. Mehr als 1.000 wurden zerstört oder gelten als vermisst und nur wenige haben den Abend überstanden. Dann beendet Nancy die Vorstellung: „The show is over. You can applause now.“ 

Die Symptome, die sich bei dem Gefühl der Angst bemerkbar machen, sind oft diffus. Wenn wir ihnen aber auf den Grund gehen, können wir viel über unsere individuellen Sicherheitsbedürfnisse erfahren. Dass sich ein Publikum im Theatersaal in Sicherheit wiegt, ist eine erlernte Gelassenheit, die häufig selbst dann bestehen bleibt, wenn das Spektakel auf der Bühne eskaliert und die innere Anteilnahme überbordet. Wird das Publikum jedoch aktiv angesprochen und einbezogen, wird dieses erlernte Schutzschild aktiv durchbrochen, die Grenze zwischen Alltagsleben und Theater verschwimmt. Unangenehme Gefühle, Angst und Scham können zum Vorschein kommen. Auch ich versuche, mich an mein Notizbuch zu klammern, schreibe ununterbrochen und vermeide den Blickkontakt, um nicht im Spotlight zu landen. Dragana Bulut versucht mit „Behind Fear“ diese widersprüchlichen Erfahrungsebenen im Theater zu ergründen und die Konstruktionen von Sicherheitsempfinden spielerisch zu hinterfragen, indem sie ein Sicherheitsteam vorschickt, das Methoden aus der Verhaltenstherapie anwendet. Das Erlernen von Skills soll dem Publikum dabei helfen, mit den unangenehmen Empfindungen von Gefahr, Bedrohung und Scham umzugehen, wenn sie in einer partizipativen Aufführung selbst zu Akteur*innen werden. Haben sie gewirkt? Aus dem Theatersaal fliehen ein paar Personen. Die meisten Zuschauer*innen bleiben bis zum Ende. Geduckt und leicht überfordert verlasse ich den Raum.


„Behind Fear“ von Dragana Bulut (Premiere: 2. Februar 2022) ist noch bis zum 5. Februar 2022 im HAU3 zu sehen, Vorstellungsbeginn um 20:00 Uhr, evtl. Restkarten an der Abendkasse erhältlich.

Konzept, Künstlerische Leitung, Choreografie und Performance: Dragana Bulut / Von und mit: Caroline Neill Alexander, Tian Rotteveel, Mohanad Al-Rim, Nancy Meissner / Dramaturgische Beratung: Thomas Schaupp, Maja Zimmermann / Musik und Sounddesign: Tian Rotteveel / Lichtdesign: Elliott Cennetoglu / Bühnenbild: Jonas Maria Droste.