“Bogumer (or Children of Lunacharski)”, Cia Vero Cendoya ©Kiku Pinol

Es fielen Schüsse

Am 17. November 2022 präsentierte HAU 1 im Rahmen des NO LIMITS – Disability & Performing Arts Festival Berlin Cia Vero Cendoyas „Bogumer (oder Children of Lunarcharski)“.  Damit stand die Frage im Raum: Wer bestimmt, was gespielt wird, wenn der Boss (im wahrsten Sinn des Wortes) gefeuert wird?

1918, während der Russischen Revolution, verurteilte ein Moskauer Gericht unter dem Vorsitz des marxistischen Revolutionärs und Bolschewiken Anatoly Lunacharsky Gott wegen Verbrechen gegen die Menschheit zum Tode. Die „Hinrichtung“ war für den darauffolgenden Tag anberaumt. Im Morgengrauen feuerte ein Erschießungskommando auf dem Roten Platz in den Himmel. Dieses surreale Ereignis inspirierte die Künstlerin und Choreografin Vero Cendoya zu ihrer Produktion „Bogumer (or Children of Lunacharski)“. „Bogumer“ ist die lautschriftliche Version der Worte „Gott ist tot“ in russischer Sprache. 

Die Inszenierung beginnt mit der Verlesung einer Liste „göttlicher Akte“ im Laufe der Jahrtausende – Fluten, Epidemien, Hungersnöte, ergänzt um die jeweilige Opferzahl. Jem Prenafeta spielt mit einem Stoffhamster in einem Käfig, Natalia d’Annunzio steht auf dem Laufband, Laia Martí, Jacob Gomez, Carlos Fernández und Linn Johansson schlurfen umher, gefangen in einem Käfig aus hängenden Seilen. Die Symbolik drängt sich den Zuschauenden auf. Unausweichlich, zunächst. Die Performenden sind Rädchen im Getriebe einer lieblosen Gesellschaft oder hilflose Puppen, deren Strippen ein allmächtiger Gott zieht. In einer Schleife treten sie seitwärts auf das Laufband und werden auf eine bereitliegende Matratze geworfen, als wären sie Werkstücke auf einem Fließband. Sie bewegen sich synchron in einer militaristischen Choreografie, agieren als in die Luft feuerndes Exekutionskommando, und der Käfig, der sie umgibt, fällt. In diesem Moment wappne ich mich für eine Stunde ungewollt schwerfälliger Sinnbildlichkeit. 

Schnell merke ich jedoch, dass sich dieses Stück in Ton und Intention perfekt kontrolliert präsentiert und ich nehme eine Neubewertung der ersten Szenen vor: Sie sind ein gestochen scharfes Pastiche des sozialistischen Realismus. Es folgt eine Serie von Vignetten, Individuen, die in den Machtstrukturen gefangen und zugleich von ihnen erhöht werden. Ein Team von rhythmischen Gymnastinnen wird von ihrer Trainerin schikaniert. Irgendwann reicht es ihnen, und die Sadistin fällt als Opfer der gewehrbewaffneten Vollstrecker im Sportdress. Ein Popstar tanzt als Queen ihres Musikvideos, bis sie der Sonne zu nahekommt und abgeschossen wird. Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, wird nahezu gottgleich verehrt, doch der Ruhm hat seinen Preis: Er stirbt, tragisch und jung. In seinem Fall fragen wir uns natürlich, ob er zu den Mächtigen oder zu den Machtlosen zählte.

Der Soundtrack ist ein Mix eingängiger Songs, die Performenden ein wunderbarer Anblick – ich könnte ihnen ewig zuschauen. Mutiger Humor und Kitschästhetik garantieren Genuss, die Zeit vergeht wie im Flug. Doch die Hochglanzhülle soll hier nicht von einer leeren Schachtel ablenken. Vielmehr lässt sie komplexe Inhalte clever durch die Ritzen tröpfeln. Auf den Schuss folgen maximal erkenntnisbringende Momente. Einsam Tanzende winden sich in quälenden Soli, Gruppen schreien und stampfen chaotisch umher, ohne wirklich voranzukommen. Irgendwann öffnen zwei Performende ihre Getränkedosen. Sie verharren stehend, trinkend und auf die gefallene Leiche blickend. Das Machtvakuum wird – so scheint es – der irritierende Raum, in dem sich alle wiederfinden. 

Trotz der omnipräsenten Sowjetästhetik fühle ich mich aufgefordert, die Ideen der Inszenierung im Licht des aktuellen gesellschaftlichen Kontexts wahrzunehmen. Insbesondere die Rolle des (und die Konsequenzen für das) Individuum(s), wenn Machtstrukturen zerfallen. Vielleicht will ich nicht unhinterfragt auf eine staatlich sanktionierte Überzeugung zurückgreifen. Doch lässt sich diese anders als durch Zynismus ersetzen? Wie können wir zusammenkommen, ohne dass das Institutionelle dauerhaft das Individuelle dominiert? Wer (oder was) ist in einem säkulareren Kontext nach Gott die Zielscheibe? Komplizierte Fragen schieben sich ins Bild, wenn der reine Spaß des Zuschauens vorüber ist. Mit „Bogumer“ hat die Cia Vero Cendoya ein Werk geschaffen, das den surrealen, widerspenstigen Geist des „Prozesses gegen Gott“ von 1918 aufgreift und die verwirrende Kluft zwischen dem sinnvollen Augenblick und absurder Sinnlosigkeit schließt.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


“Bogumer (or Children of Lunacharski)” der Cia Vero Cendoya ist noch am 18. November 2022 im Rahmen des NO LIMITS Festival im HAU 1 zu sehen.

NO LIMITS, Deutschlands größtes und wichtigstes Festival für Disability & Performing Arts, feiert in diesem Jahr seine zehnte Ausgabe. Das Festival läuft noch bis zum 19. November 2022 am HAU Hebbel am Ufer, Ballhaus Ost, Theater Thikwa, Theater RambaZamba und FELD Theater für junges Publikum. Alle Informationen zum Programm und Ticketerwerb finden sich unter www.no-limits-festival.de/programm.