Bild von "Inflammations", Ania Nowak © Dorothea Tuch
„Inflammations“, Ania Nowak © Dorothea Tuch

Ein wortwitziger Widerstand gegen Pathologisierung

Die in Berlin lebende polnische Choreografin Ania Nowak stellt in ihrem neuen Stück “Inflammations” in den Sophiensælen eine absurde Klassifikation von Körperphänomenen dar und setzt dabei eher auf die Wirkung des gesprochenen Worts als auf die körpereigenen Erfahrungen.

Gesundheit ist kein fester Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. Zumindest laut ganzheitlichen Ansätzen, die sie nicht als ein hohes Ideal in Abwesenheit der Krankheiten betrachten, und die Rolle des sozialen Status und der psychischen Verfassung in ihrer Entstehung nicht ausschließen. Wer ist denn klinisch vollständig gesund? Wer kennt eine Dysfunktion im Körper oder in der Seele nicht? Einen Stich in die Haut oder ins Herz? “Was hat euch hierher gebracht?”, ist dementsprechend die erste Frage, die Ania Nowak bei der Premiere im Hochzeitssaal der Sophiensæle dem Publikum stellt. “Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Herzschmerzen?”, sie fragt weiter und weiter. Was wie eine Arzt-Parodie beginnt, erweist sich als ein umfassendes Register von Körperphänomenen, Organen und unterschiedlichen Arten von Schmerzen. Chronisch, akut, stichartig, stumpf… – dabei trägt sie selber ein transparentes Patientenhemd, so wie ihre beiden Mitperformerinnen (Angela Alves, Laura Lulika). 

Als Gegensatz zur Dominanz der sterilen weißen Farbe im Raum und ihrem starren Gesichtsausdruck, liegt Nowak anfangs auf einem tentakelförmigen, anschmiegsamen Bodenkissen. Es ist ein Trost, dass nicht alles klinisch kühl ist. Letztendlich möchten wir Menschen angenehme Sinneserfahrungen machen. Auch in Schmerzzuständen oder vor allem dann. Eine andere Performerin ist schon am Spielen. Sie tastet eine Silikonmatte auf dem Boden ab. Die Matte ist haptisch reizend und hat eine kleine Beule darauf, die kreative Möglichkeiten des “Fehlerhaften” zum Leben erweckt. Gleichzeitig wirkt sie wie ein Geschlechtsteil, das zu kindlichen sexuellen Spielen einlädt. Die dritte Performerin wirkt eher gelangweilt, während sie eine Hängeliege schaukelt. Ist die Liege für Erotikspiele gedacht oder für Krankenhausaufenthalte? Die Performerinnen spielen später tatsächlich alberne Doktorspiele und lachen dabei.

Es hört aber mit der Erotik, mit dem Suchen und Entdecken auf, sobald das Verbale ins Spiel kommt und sich die Aneinanderreihung der Wörter auf den Zetteln der Performerinnen zu einer langen Spoken-Word-Session entwickelt. Und das passiert, obwohl sie jetzt im engen Körperkontakt miteinander stehen und ihre Worte, die sie in unterschiedlichen Konstellationen aussprechen, die Lust, den Horror oder die Wissenschaft des Körpers betreffen. Die rythmischen Wiederholungen (dare-demand-diagnose/diagnosis-demands-dare/share-self-care) machen aus Wörtern Worthülsen. Die Reime (horrify/mystify/glorify/magnify), ohne eine verbindende Erzählung, erinnern an Kinderspiele, an Zungenbrecher. Immer wieder werden absurde neue Definitionen für Begriffe erfunden. PMS steht beispielsweise für “Practical Magic Skills”. Das Spannende hinter diesen manifest vorgetragenen Worthülsen -nämlich, wer diese Begriffe besitzt, wer unsere Zustände diagnostiziert- kommt dabei selten zum Vorschein. Die Aufzählung geht weiter, bis ein Paar Leute den Raum verlassen, bis eine Performerin das Publikum fragt, ob es genug für uns ist.

“Inflammations” verkündet, ein Stück über Verletzlichkeit, chronischen Schmerz und Erschöpfung zu sein. Davon sollten wir nicht genug haben. Vor allem wenn das Zeigen von Verletzlichkeit oder Krankheit weitgehend verpönt ist, solange die nötige Schönheit, Stärke oder ein gewisser Status nicht vorhanden sind, die das Unerwünschte für die Zuschauenden erträglich machen. Was nicht gezeigt werden darf, wird aber mit allen Mitteln gefördert, denn Pathologisierung macht Geld. Dass das Buch der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation mit jeder Ausgabe umfangreicher wird, liegt nicht daran, dass mehr Menschen krank werden, sondern als krank definiert werden. Der Wörterkatalog von “Inflammations“ deutet das alles an, bleibt aber in einer sarkastischen Distanz. Das Sloganartige und Reglose mag den Zeitgeist der Ermüdung durch einen Überfluss an Definitionen treffen (immerhin lacht das Publikum am meisten, wenn auf Abkürzungen wie ADHD und PSTD “FOMO” folgt, nämlich “Fear of Missing Out”), es schafft aber weder Zeit noch Raum, damit diese Wörter im Körper resonieren, und so erfahren und hinterfragt werden. Auch weil wir kaum davon erfahren, was mit den Körpern der Performerinnen passiert.

Das ändert sich in der letzten halben Stunde. Nicht weil sie dann nackt sind, sondern weil sie sich sorgfältig, liebevoll und sanft gegenseitig ausziehen und sich dem Körper einer anderen Person widmen. Eine Verschmelzung von Erotik, Freundschaft und Liebe ist zu spüren, während die Körper der Performerinnen sich in ihrer Verletzlichkeit solidarisieren. Ein Widerstand gegen Pathologisierung, der zu spät kommt. Schön wäre es, zu hören, was diese Körper selbst noch zu sagen haben, und nicht nur das, was über sie gesagt wird.