Mit Jefta van Dinthers „Plateau Effect“, einem Sinnbild für den Schrecken der Katastrophe und die Schönheit der Kooperation, startet das Staatsballett in die erste offizielle Saison der Duo-Intendant*innen Sasha Waltz und Johannes Öhman.
Körper, die sich gegen die Materie stemmen. Menschen, die kooperieren, um das Stoffliche in eine Form zu bringen. Wie eine Metapher auf die menschliche Existenz wirkte Jefta van Dinthers „Plateau Effect“ beim Cullberg Ballet, das mit dem Stück 2014 bei Tanz im August gastierte. Nun hat der in Berlin ansässige Choreograf seine 2013 entstandene erste größere Auftragsarbeit für eine internationale Compagnie mit dem Staatsballett Berlin neu einstudiert. Zum offiziellen Einstieg von Sasha Waltz in die Duo-Intendanz mit Johannes Öhman, der bereits seit einem Jahr die Entwicklung der Truppe zu einem klassisch wie zeitgenössisch einsetzbaren Ensemble vorantreibt. „Plateau Effect“ zum Zweiten. Und die Anmutung ist, nicht nur tänzerisch, sondern auch atmosphärisch, eine durchaus andere.
Lässig stehen die acht Tänzer*innen zu Beginn vor einem bühnenhohen grauen Vorhang, singen vereinzelt in stummem Playback einen steril klingenden Song mit, ein Cover von Michelle Gurevichs „Friday Night“, für „Plateau Effect“ neu komponiert von Sigridur Kristjansdottir. Aus cooler Nonchalance wird währenddessen gefährlicher Balanceverlust: Zunehmend wirken die Tänzer*innen wie im Kampf mit dem sich bauschenden Stoff, der Wellen schlägt um ihre Körper als sei er eine von hungrigen Kreaturen bevölkerte See. Effektvoll endet diese Anfangsszene: Wie eingesaugt verschwinden die Leiber, einer nach dem anderen, unter den Rand des Vorhangs. Unsichtbar bleibt die dabei wirkende Kraft beim Staatsballett nicht: Unterm Vorhang blitzen die Gurte und Gummibänder auf, gegen die das Ensemble sich auflehnt. Und doch bleibt der Eindruck des Eingesaugtwerdens gleichermaßen ästhetisch fesselnd wie bestürzend brutal.
In dieser Ambivalenz von Schönheit und Schrecken schwingt Jefta van Dinthers Performance.
Nach dem Prolog vor dem Vorhang wird der Stoff aus dem Schnürboden herabgelassen und, in rasender Eile, von den Tänzer*innen von der Traverse abgeknotet. Hektik hat die Performer*innen erfasst, sie knüllen den Stoff zusammen, wild, mitunter als kneteten oder schlügen sie ihn, schieben ihn nach und nach zusammen auf einen Haufen, und erst dann sinkt Ruhe über die Gruppe. Kurz nur allerdings, denn von Grundnervosität scheint die bunt zusammengewürfelte Truppe Menschen erfasst.
Als hätte das Wogen des Stoffes sie affiziert, rütteln äußere und innere Kräfte an den Körpern. Vom Oberkörper, den Schultern, der Brust ausgehend, ziehen mal wellenartige, mal chaotische Impulse durch ihre Glieder. Arme schlenkern dem Torso hinterher, Beine knicken weg. Mühsam nur können sich die Tänzer*innen voranbewegen, wie gegen die kommenden Stürme gestemmt, verbogen und gekrümmt. So wirkte das zumindest beim Cullberg Ballet. Die Tänzer*innen des Staatsballetts erscheinen weniger von Elementarkräften gebeutelt als von ornamentalen Anwandlungen befallen. Viel von seiner Wucht verliert dadurch das dramatische Bühnengeschehen, welches im Zusammenspiel von Mensch und Materie andauernd andere Assoziationen an Desaströses weckt – an geschwächte Geflüchtete, temporäre Zeltlager, an ein Schiff nahe dem Untergang, dessen Segel mit höchster Anspannung gerefft werden müssen.
Beschworen werden in „Plateau Effect“ aber nicht nur Kataklysmen, sondern auch die Macht der Kooperation und die Schönheit organisierten Zusammenspiels, besonders in der dynamischsten Szene, in der zum an- und abschwellenden Techno-Soundtrack von David Kiers die riesige Stoffbahn von den Tänzer*innen mit Tauen in immer neue schiffs- und zeltartige Gebilde gezurrt wird. Flüchtige Bilder entstehen, veränderlich wie das Wetter. Temporäre Kunstwerke, hergestellt mit enormem (Körper-)Einsatz der Tänzer*innen.
Wie anders ist die Anmutung dieser Szene fünf Jahre nach dem Cullberg-Gastspiel! Fridays for Future, die Klimakrise, überladene Boote auf dem Mittelmeer, rechtsextreme Prepper-Zellen – all diese Bilder, Informationen und Zusammenhänge überlagern die Performance. Erschien „Plateau Effect“ 2014 noch wie ein abstraktes Sinnbild für des Menschen alltäglichen Kampf gegen die Entropie, als Plädoyer für das Bündeln schöpferischer Kräfte, um aus dem Ungefügten eine Form zu schaffen, so wirkt das hektische Hin und Her auf der Bühne jetzt weniger wie Dringlichkeit, sondern wie kopfloser Aktionismus. Hilflosigkeit angesichts unbewältigbar erscheinender Herausforderungen. Diese Veränderlichkeit in der Anmutung spricht für Jefta van Dinthers Kunstwerk – als deutungsoffenes Angebot für aktuelle Assoziationen.