Thiago Rosa. Eine Porträtperformance ©Ballhaus Naunynstraße

Ein transgenerationales Autoporträt

Am 24. September 2021 hat sich im Ballhaus Naunynstraße der in Berlin lebende brasilianische Künstler Thiago Rosa mit einer autobiografischen Arbeit vorgestellt. Es handelt sich um eine Porträtperformance, in der die Leerstellen der Geschichte und die Gewalt kolonialer Machstrukturen zum Ausdruck kommen. 

Als Einladung an das Publikum, „faszinierenden Künstler*innen zu begegnen und die Komplexität ihrer Kunst zu erleben“, wie man auf der Webseite des Theaters lesen kann, entwickelte das Team des Ballhaus Naunynstraße eine innovative Reihe unter dem Titel PORTRÄT. Es soll jungen und vielleicht noch nicht so etablierten Künstler*innen den Raum und Zugang zu Ressourcen ermöglichen, „sich und die eigenen Fähigkeiten und Künste, ja das, was wirklich wichtig ist, zu zeigen.“ In diesem Kontext präsentierte der in Rio de Janeiro geborene Künstler Thiago Rosa, der derzeit am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT Berlin) studiert, seine Arbeit, die zwischen Lecture-Performance, Choreografie und Videoinstallation mäandert. Nachdem der künstlerische Leiter Wagner Carvalho das Publikum begrüßt hatte, begann die Performance. 

Auf der Bühne befindet sich ein langer Tisch mit einem Stuhl, eine Kamera, die auf das Publikum gerichtet ist, sowie drei Projektionsflächen. Rosa berichtet zuerst von einem Ort in seiner Heimatstadt, an dem er als Kind spielte und wo regelmäßig ein Zirkus zu Gast war. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dem Bild eines alten Löwen, der hinter den rostigen Gittern seinen Stolz verloren zu haben scheint. Gleich zu Beginn wird der Aufführung damit ein allegorisch-narrativer Rahmen gesetzt, in dem sich Rosas Auseinandersetzung über Kolonialismus und die damit zusammenhängenden Leerstellen der Erinnerung entfalten wird. Neben der Gestalt des Löwen bildet die Evokation seiner Schwarzen Großmutter das zweite Kernelement, welches die Dramaturgie (dramaturgische Beratung, Bühne, Ton und Video: Zé de Paiva) bestimmt. Da Rosa kein Foto der Großmutter besitzt, fragt er sich, wie sie ausgesehen haben könnte bzw. wer sie überhaupt war. 

Neben Sprache und Bewegung ereignet sich das Performanceporträt als Videoinstallation. Der Künstler bedient selbst die Kamera, mit der er abwechselnd sein Gesicht und seine Hände filmt. Ein interessanter Vorgang, der das Videobild mit der Suche nach biografischen Leerstellen verbindet, ist jener Moment, in dem das Kameraobjektiv auf das Publikum gerichtet wird, wodurch dieses sich für einige Minuten auf der Projektionsfläche beobachten kann. Die Frage über die fehlende visuelle Darstellung der Großmutter wird damit als Impuls genutzt, um eine direkte Kommunikation mit den Besucher*innen aufzubauen und die Grenze zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum zu destabilisieren. 

Im letzten Teil erlischt das Licht und die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die drei Projektionsflächen. Der Fokus liegt nun auf den vorgefilmten Videos, in denen der Künstler versucht, sich mit der Figur seiner Großmutter zu identifizieren, indem er eine Reihe fiktionaler Portraits von ihr aufführt und verkörpert. Die Leerstellen der Kolonialgeschichte zeigen sich in Rosas Performance also als Lücken im eigenen Familienarchiv: fehlende Gestalten, die man sich nicht mehr vor Augen führen kann und zu denen man nur noch einen spekulativen Zugang der Erinnerung hat. Wenn kein Bild der Großmutter vorhanden ist, wie könnte man sie dennoch zurück ins Leben rufen? Rosas Antwort wäre: mit dem Körper, der sich bewegend erinnert und das Nachleben der Vorfahren re-inszenieren kann. Die Gestaltung des imaginären Porträts entfaltet sich somit nicht in Richtung eines nostalgischen Rückblicks in die Kindheit, sondern setzt sich konsequent mit den verschütteten Erinnerungen auseinander. Besonders prägend dabei ist die transgenerationale Verbindung mit den Ahnen, die performativ erzeugt wird und die zeigt, dass der postkoloniale Kampf immer auch ein Kampf gegen die Verdrängung subalterner Erfahrungen und Geschichten ist. In anderen Worten, nur in dem man eine vitale Verbindung zu den Ahnen herstellt, kann auch eine andere Zukunft zu Stande kommen. Wie Frantz Fanon es in seinem Buch Die Verdammten dieser Erde formulierte, die Gewalt gegen die Vergangenheit des Kolonisierten sei eine Gewalt gegen die Zukunft. Dagegen sind Projekte wie das Performancepoträt von Thiago Rosa zukunftsorientierte Erinnerungen, die den Körper gegen das Vergessen und die Bildlosigkeit der Schwarzen Geschichte mobilisieren.        


Thiago Rosa (geboren in Rio de Janeiro, Brasilien) ist Teil des Colectivo Bonobando (Leitung: Adriana Schneider und Lucas Oradovschi). Er ist Schauspieler und Performer und hat einen Abschluss in Bildender Kunst. Er studierte an der Tanzfabrik Berlin und absolviert derzeit ein Bachelor-Studium in Tanz, Kontext und Choreographie am HZT – Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin.