takao kawaguchi (c) dajana lothert

Ein Spiegel im Spiegel

Takao Kawaguchi lässt Butoh-Legende Kazu Ohno beim Festival Tanz im August von den Toten auferstehen.

Butoh-Ästhetik hat etwas von Punk. Nackt, schmutzig, chaotisch, wild und brutal — „Kinijki“ (Verbotene Farben), das Gründungsstück des japanischen modernen Tanzes aus dem Jahr 1959, das in Anlehnung an die gleichnamige Erzählung von Yukio Mishima entstand, war ein gewaltiger Skandal. Nicht nur, weil hier ein Huhn (scheinbar oder tatsächlich) verstarb, sondern weil Tatsumi Hijikatas Stück in seiner gesamten homoerotisch aufgeladenen Ästhetik als Affront gegen das japanische Establishment wirkte. Doch damit nicht genug, denn der künstlerische Widerstand richtete sich auch gegen die zunehmende Verwestlichung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg und eine sich damit verbreitende klassische Auffassung von Schönheit im Tanz. Das Punkartige am Butoh erklärt vielleicht auch, weshalb dieser Tanz ohne feste Form im Berlin der 1980er-Jahre so beliebt war.

Beim Festival Tanz im August erfuhren nun vor kurzem drei Meisterwerke der Butho-Legende Kazu Ohno in Ausschnitten ihr Revival. Takao Kawaguchi, Multimediaperformer aus Tokio, hat sie kopiert. Auch ein Affront, zumindest in Japan, denn Kazuo Ohno hatte dort Guru-Status. Man kopierte seine beseelten Tänze nicht einfach, sondern lernte von ihm oder einem seiner Nachfahren – im Butoh sind die Hierarchien ähnlich streng wie in fernöstlichen Kampfkünsten. Ohno gilt eher als der subtile und feinfühlige Revoluzzer unter den Butoh-Künstlern. In jedem Falle war auch er schon ein Erinnerungskünstler. Kawaguchi wiederum weckt die Erinnerung an die Erinnerung.

Das Publikum lehnt an den Bühnenwänden des HAU 3. „About Kazuo Ohno“ beginnt wie ein Happening – Museumssetting fürs Theater, der formale Rahmen für den Kazuo Ohno-Heraufbeschwörung-Ritus ist gesteckt. In einem Haufen Sperrmüll experimentiert der Performer Kawaguchi mit Leiter, Gartenschlauch, Stoffgirlanden und Plastikplanen. Mal schiebt er das Gerümpel durch den Raum oder installiert hier und da eine Girlande. Mal sammelt er beim Gehen das Material um seinen Körper an und verschmilzt damit zu einer heterogenen Plastik – Abfall ist wohl eine der ältesten Kulturpraktiken der Welt, eine Metapher für Vergänglichkeit, aber auch für Umwandlungsprozesse, aus Altem Neues zu schaffen. Inspiriert ist Kawaguchis erstes Bewegungs-Erinnerungs-Bild vom Film „The Portrait of Mr O“, den Kazuo Ohno während einer zehnjährigen Rückzugsphase neben zwei weiteren Filmen mit Chiaki Nagano drehte.

Sinnbildlich und biografisch korrekt geht es in ungeschöntem dramaturgischen Bogen mit einer Szene namens „Death an Birth“ aus „Admiring La Argentina“ (1977) weiter. Ohnos Comeback-Stück drückt seine Begeisterung gegenüber der einst meistgefragtesten Tänzerin Spaniens, Antonia Mercé aus. In seinem Solo verlässt Ohno symbolisch seine eigene Welt, um als junges Mädchen wiedergeboren zu werden. Einen besonderen Einfluss auf Ohnos Leben hatten, nun ja, auch seine Eltern. Auszüge aus „My Mother“ (1981) und „The Dead Sea“ (1985), in dem er den Verlust seines Vaters beklagt, folgen. Zwischen den einzelnen Szenen gibt es Umziehpausen, die vor einem Spiegel und einem Garderobenständer auf der Bühne stattfinden. Wandlungsfähig muss Ohno wirklich gewesen sein, so viel ist mehr(m)als klar. Vor der fünfminütigen Pause wird ein überdimensionales Video gezeigt, in dem Yoshito Ohno seinen verstorbenen Vater mit einer Handpuppe zum Leben erweckt. Dazu läuft, sorgfältig ausgeklügelt, Elvis Presleys „Can´t help falling in love with you“ – Symbiose der Ost-West-Idole. Über die historischen Differenzen sind Müllberge aus Kitsch gewachsen. Presley jedenfalls ist länger tot als Ohno und kann sich an diesem Abend selbst nachträglich zum vierzigsten Todestag gratulieren. Falls er anwesend ist.

Und immer so weiter. Ein Spiegel im Spiegel. Allzu durchschaubar das endlose Erinnerungslabyrinth. Dann die Erlösung. Kawaguchi als Ohnos La Argentina. „Tango Blume“ jagt verspielt „Tango Vogel“ und zwitschert elegant rüber zu „Chopin“, ohne Umziehpausen, mit viel eingespieltem Applaus und unter mehrmaliger Verbeugung. Das Ohno-Universum tut sich auf – charmant, inbrünstig und voller Lebensfreude. Wie schade nur, ihn nie selbst erlebt zu haben.

Fazit: Takao Kawaguchis Technik lässt sichtbar werden, dass Kazuo Ohno ein Meister seines Fachs gewesen sein muss, der mit viel Leidenschaft für seine Berufung und ansteckender kindlicher Freude für mehr Liebe zum Leben plädierte. Vielleicht gerade weil er dem Tod und den Geistern der Vergangenheit so nahestand. „About Kazu Ohno“ ist ein minimalinvasiver Eingriff in das Lebenswerk des großen Meisters und keinesfalls gewagt. Ganz einfach eine Möglichkeit, um diesen bizarren und sympathischen Clown mit all seinen traurigen und fröhlichen Gesichtern (als Sinnbild der zwischen Himmel und Erde gespannten absurden menschlichen Existenz) wieder zu treffen oder kennen zu lernen. Nicht mehr und nicht weniger.