„Slave to the rhythm“, Hermann Heisig © Rolf Arnold

Dieser Rhythmus…

…reißt uns mit? Hermann Heisig wandelt im Tänzer*innen-Quartett mit autoritärer Lehrerin auf den Spuren der Rhythmischen Gymnastik à la Émile Jaques Dalcroze.

Dieser Rhythmus reißt vielleicht nicht (mehr) vom Hocker, aber dafür kommt hier auch (erst mal) niemand aus dem Takt. Schon bevor wir den Festsaal der Sophiensaele betreten, dringt das regelmäßig erklingende Metrum von der noch verschlossenen Bühne ins Foyer. Wir werden eingestimmt. Die Eine oder der Andere fühlt sich vielleicht schon jetzt zurückversetzt: Kindertage an der Ballettstange oder im Gymnastikunterricht – sonntagnachmittags der Reihe nach im hautengen Body zwischen Ehrgeiz und Schamgefühl…

Die Türen zur Bühne werden geöffnet und dort am vorderen Bühnenrand ist die im Programmheft angekündigte „ziemlich strenge Pianistin“, performt von Elpida Orfanidou, am Keyboard im Rhythmus versunken. Ihr Arbeitsplatz: stilecht mit Tischdecke, frischem Tulpenstrauß und einem Glas Rotwein, von dem sie selbstvergessen einen Schluck nimmt, um mit einer Hand die vertraute Tonfolge in höchster Präzision am Laufen zu halten. Der Eindruck liegt nicht fern, dass sie in eben jener Pose, ohne eine Sekunde älter zu werden, für immer so weiter spielen könnte… Ich erwache aus dieser angenehm meditativen Unendlichkeit des Takts in dem Moment, wo vier Tänzer*innen diagonal durch den Raum gehen: Schritt für Schritt, zum Rhythmus setzen sie genormt und doch auf ihre ganz eigen(artigen) Weisen zum Gehen einen Fuß vor den anderen.

Pieter Ampe, Jessica Batut, Hermann Heisig und Ixchel Hernandez/Alma Toaspern bestechen als Quartett schon rein äußerlich in ihrer sympathischen Verschrobenheit, die so gar nichts mit idealisierten Körperbildern oder harmonisch-gleichförmiger Gemeinschaft zu tun hat oder diese Ideen von Vornherein ironisch bricht. So wird das Unpassende/Unelegante dieser Schüler*innen-Gruppe nur umso deutlicher, je ehrgeiziger sie die Anweisungen der Lehrerin befolgt, die ihrerseits eine wunderbare Antiheldin der lebensreformerischen Rhythmus-Bewegung abgibt: „You have to be serious. Enjoy! Feel it! Feel it!

Die Glanzleistungen der Performer*innen schwanken über die Dauer des Stücks zwischen dem Versuch, sich dem Rhythmus tatsächlich unter zu ordnen, die kleinen choreografischen Anweisungen und Übungsfolgen ernsthaft umzusetzen, und dem eigenen Anteil Individualismus gerade genug – aber nicht zu viel – Raum zu geben.

Was „Slave to The Rhythm“ interessant macht, sind zunächst die Beobachtungen, die frau an sich selbst als Zuschauerin machen kann: Warum genieße ich es eigentlich, vier Menschen dabei zuzusehen, im Takt durch den Raum zu gehen, sich Gymnastikbälle zuzuwerfen, bei all dem keine Angestrengtheit zu verbreiten? Dabei macht es tatsächlich eine Weile Spaß, dieses Quartett in silbergrauen, glänzenden Schlaghosen, glitzernden Oberteilen und wehenden Faltenröcken zu beobachten, weil hier der typische Heisig-Humor durchblitzt. Slapstickartige Rutschpartien von der provisorisch installierten Show-Rutsche à la Adolphe Appia.[1]

Das Stück nimmt auch Fahrt auf, wenn der ansteigende, unbarmherzige Rhythmus sie dazu antreibt, in einzelnen Showeinlagen um die Gunst der Zuschauer*innen zu buhlen, der Reihe nach an den Bühnenrand zu galoppieren, die Beine hochzuwerfen und: „Taratatatatatatatata!“ – das Ganze Versprechen der Einheit von Körper, Geist und Rhythmus selbst ad absurdum zu führen. Erst gegen Ende des Stücks werde ich das Gefühl nicht los, dass das alles insgesamt doch irgendwie zu leichtfüßig über die Bühne gegangen ist…

Anfang des letzten Jahrhunderts stehen Leute wie Dalcroze und Appia als Anhänger der Lebensreformbewegung auch für die Utopie des „Neuen Menschen“ ein. Ohne die „Gartenstadt Hellerau“ und die Rhythmische Gymnastik wäre der Moderne Tanz in Deutschland nicht denkbar gewesen. Wohin diese Anfänge jedoch gemündet sind – vom harmonischen Mitschwingen zum Gleichschritt / von der „Befreiung“ des von der Industrialisierung entfremdeten Körpers („Zurück zur Natur“) zu den Rassegesetzen – wissen wir.

Wie also heute noch im Kreis hüpfen?

„Slave to the Rhythm“ deutet in jedem Fall das ambivalente Potential dieser Anfänge des Modernen Tanzes an und lässt den zunächst regelmäßigen Rhythmus über die Dauer des Stücks auseinander fallen. Am Ende schütteln sich alle zu rauschhaften Technobeats, Einheit und Disziplin lösen sich auf und selbst die Lehrerin hat ihren Platz verlassen und stimmt mitein… Und dennoch geht auch dieses Abschütteln nicht wirklich weit genug, oder wagt sich doch nicht dorthin, wo es den Zuschauer*innen weh tun könnte. Oder ist das eine Frage des inneren (Un-)Gleichgewichts?   

In meinem Kopf hallen noch die Worte der strengen Pianistin: „Rhythm comes [schließlich] from the inside“.


[1] Adolphe Appia (1862-1928), Bühnenbildner und Architekt, enger Vertrauter des Begründers der Rhythmischen Gymnastik Émile Jaques Dalcroze (1865-1950). Appias Szenografien, wie sie vor allem am Festspielhaus Hellerau inszeniert wurden, zeichnen sich durch klare geometrische Linien, Treppen und Plattformen aus, lichtdurchflutete, kontrapunktische Architekturen, die „Rhythmische Räume“ („Espaces rhythmiques“) erschaffen.