„Mega Israel: Minus 16″, Gauthier Dance © Regina Brocke

Bewegungsfolien mit Rissen

Extreme Körperlichkeiten, spezielle Bewegungssprachen und inzwischen schon fast ein Stück zeitgenössische israelische Tanzgeschichte: Gauthier Dance aus Stuttgart zeigt unter dem Titel „Mega Israel“ Choreographien der drei bekanntesten zeitgenössischen Choreograph*innen aus Israel im Haus der Berliner Festspiele.

Ich frage mich den gesamten Abend über, wie man als Tanzkritiker*in Produktionen anschauen soll, die einer Company übertragen wurden – in diesem Falle Gauthier Dance – und die vorher schon von den eigenen Companies der jeweiligen Choreographen zu sehen waren. Da ich die drei Choreographien „Uprising“ von Hofesh Shechter, „Killer Pig“ von Sharon Eyal und Gai Behar sowie „Minus 16“ von Ohad Naharin von den jeweiligen Ensembles performt gesehen habe, kann ich mich kaum davon abhalten, zu vergleichen – und natürlich Differenzen zu sehen.

Auf der einen Seite ist dieser Vergleich natürlich unfair, weil sich so spezielle Bewegungssprachen wie diese des heutigen Abends über längere Zeiträume und unzählige Wiederholungen in den Körpern einnisten und auf eine fast absurde Art und Weise „organisch“ erscheinen. Bei den Tänzer*innen der 2007 entstandenen Company Gauthier Dance wirken die signaturhaften Bewegungsmerkmale nun wie eine Folie, die noch nicht so lange Zeit an den Körpern haftet. Zwischendurch lassen Risse in dieser Folie Bewegungssprachen hervorblitzen, die neben einer starken klassischen Technik auf das Repertoire der Company, etwa von Mauro Bigonzetti, William Forsythe, Itzik Galili und Hans van Manen, verweisen. Vielleicht ist das aber gerade spannend, wenn wir über Tanzerbe, Übertragungen und Einschreibung nachdenken. Die drei Choreograph*innen verbindet außerdem ein biographischer roter Faden, denn sowohl Hofesh Shechter als auch Sharon Eyal haben vor mehreren Jahren in der berühmten Batsheva Dance Company getanzt, dessen künstlerischer Leiter Ohad Naharin ist – dessen Signatur-Produktion „Minus 16“ den Abend abschließt. 

Das 2006 uraufgeführte Stück „Uprising“ (dt. „Aufruhr“) gleicht einem hoch stilisierten und technisch verfeinerten Schaukampf, der zwar von treibenden, aggressiven Beats – von Hofesh Shechter selbst komponiert – getragen wird, aber sonst nicht viel Grausames an sich hat. Dennoch fesseln die sieben Tänzer in ihrer nicht abbrechenden Kraft und Geschwindigkeit bei gleichzeitig maximaler Durchlässigkeit die Blicke der Zuschauer.

„Killer Pig“ von Sharon Eyal und Gai Behar ist 2009 entstanden und bewegt sich im Bereich von Mikroverschiebungen innerhalb der einzelnen Körper der sechs Tänzerinnen in beigefarbenen engen Ganzkörperanzügen. Während Shechters „Uprising“ auf ausladende raumgreifende Bewegungen mit viel akrobatischer Bodenarbeit setzt, zuckt und bounct es in „Killer Pig“ in Schultern und Körpermitte. Wie Lemminge bewegen sich die Körper des uniformen Mini-Schwarms geklonter Wesen, aus dem auch mal eine Tänzerin ausschert und einen kurzen choreographischen Alleingang wagt.

Eric Gauthier musste viele Jahre warten, bis er endlich die 16 Tänzer*innen für „Minus 16“ zusammen hatte und Ohad Naharin ihm die Rechte an der Choreographie überließ. Dies erzählt der künstlerische Leiter von Gauthier Dance ganz zu Beginn, bevor die Performance losgeht und er das Publikum persönlich begrüßt. „Minus 16“ ist eine Art Clipping Naharins’ Choreographien und dazu gehört der berühmte Stuhlhalbkreis zu dem hebräischen Volkslied „Echad Mi Yodea“. Mit jeder Strophe kommt eine Zahl – bis hin zur Dreizehn – und eine Bewegung hinzu, so dass die sich immer wiederholende Bewegungsabfolge zunehmend länger wird. Dabei entledigen sich die Tänzer*innen immer eines Kleidungsstückes ihrer Unisex-Anzüge, bis alle – bis auf einen Tänzer ganz vorne rechts, der schon zu Beginn jeder Strophe vom Stuhl aufs Gesicht fällt und angezogen bleibt – in grauer Unterwäsche auf den Stühlen sitzen.

Gauthier Dance reiht sich ein in eine Riege internationaler, insbesondere junger Companies, die diese Schlüsselwerke israelischer Choreograph*innen tanzen durften – ein in positiven Aufruhr versetztes Publikum bestätigt seine Begeisterung in Standing Ovations und lässt Tanzwissenschaftler*innen oder anderen Bewegungs-Nerds die Möglichkeit, die kleinen Mikro-Differenzen mit ihren Adleraugen zu erspähen.