„flirren“, Rubato © Gerhard Ludwig

Die Welt am Abgrund?

Die Tanzkompanie Rubato entwirft mit „flirren“ in den Uferstudios Bewegungsbilder der Angst (und der Freiheit). Zwischen Schreck-Reflex, blindem Aktionismus und plötzlicher Enthemmung.

Die Tanzkompanie Rubato entwirft mit „flirren“ in den Uferstudios Bewegungsbilder der Angst (und der Freiheit). Zwischen Schreck-Reflex, blindem Aktionismus und plötzlicher Enthemmung.

Wie bewegen sich Menschen die permanent in Hab-Acht-Stellung sind? Und wohin führt eine vermeintlich unterirdisch brodelnde, kollektive Angst eine Gesellschaft? Die Tanzkompanie Rubato empfindet westliche Gesellschaften aktuell als Angst besetzt. Für „flirren“ übertragen vier Tänzer*innen dieses schwer zu fassende Grundgefühl in Bewegungen. Und lassen sich dabei von Körperreflexen inspirieren. Eine tänzerische Schlitterpartie zwischen Schreck-Reaktion, blindem Aktionismus und plötzlicher Enthemmung.

Schwarz ist das Bühnen-Ambiente an diesem Abend; die Kostüme, das spärliche Licht und eine spiegelnde Tanzoberfläche, an dem sich Mercedes del Rosario Appugliese, Dieter Baumann, Carlos Osatinsky und Anja Sielaff aufreihen. Der Augen täuschende optische Sog droht Teile ihrer fragil durchzitterten Körper aufzulösen. Seltsam getrieben und ohnmächtig zugleich wirkt das bizarre Quartett. Bei jedem hektischen Atemzug wechseln die Tänzer*innen abrupt die gemeinsam eingenommene unsichere Position und verlassen ihren zweidimensionalen Bewegungsrahmen kaum so als würde im Tiefdunkel der Bühne eine unsichtbare Gefahr lauern. Auch als Wimmelskulptur aus dicht gedrängten Köpfen sowie krabbelnden und Halt suchenden Händen und Füßen findet die Angst ihre Umsetzung in einem veräußerten inneren Flirren, das durch den wummernden bis quietschenden Sound von Alexander Nickmann noch betont wird.

Diese eigenwillig zwischen abstraktem Tanztheater und einer Art modernem Ausdruckstanz changierenden Anfangsszenen bleiben dann auch die tänzerisch am stärksten durchdrungen Ideen zu einem Thema, das als zeitgenössisches „gesellschaftliches Phänomen“ weniger drastisch in der Vokabel „Verunsicherung“ zu fassen wäre. Oder ohne die nötige (?) Diskursintention auch ganz wunderbar als Bewegungsstudie durchgehen würde (— so in älteren Stücken von Jutta Hell und Dieter Baumann ja auch geschehen).

Im weiteren Verlauf des insgesamt sechzigminütigen Abends entpuppt sich der hier dargestellte Typus des geängstigten Menschen als eingeschachtelte Kreatur, die über ihre Reflexe hinaus zu wachsen nicht im Stande ist. Verschreckt kauern die Tänzer*innen im Dunkeln wimmernd, weinend und laut aufheulend oder ziehen Hand in Hand als Überlebende einer ungeklärten menschlich oder Natur bedingten Katastrophe über die Bühne, um geführt durch Carlos Osatinsky urplötzlich in einen Betätigungsdrang zu verfallen — ziellos und unüberlegt, Opfer einer Schreck-Reaktion eben. Erst in den letzten zehn Minuten des Stücks schlägt die Angst, wie laut Abendzettel zu vermuten, in Freiheit um. Eine Freiheit, die ebenfalls impulsgetrieben ist, und zwischen Flucht und Angriff nur den Weg in die nervliche Überreiztheit findet. Die Gesichter der Tänzer*innen verzerren sich zu grinsenden Fratzen und ihre Beklemmung entlädt sich in eine übersteigerte körperliche Verausgabung (— besonders faszinierend durch Dieter Baumann präsentiert —) bis das tänzerische Toben abrupt innehält.

Haben westliche Gesellschaften jegliches psychische Normalmaß verloren, kennen wir nur noch Manie oder Depression als Antwort auf „Terroranschläge“, „massenhaftes Aufkommen rechtsradikaler Bewegungen“ und „globale Umweltprobleme“? Ja, haben wir denn tatsächlich jede Möglichkeit auf selbstbestimmtes Handeln in den Abgrund geworfen?