Editiertes Protokoll von Sasha Amaya
Zum 4.5 Salon #1 – Wir müssen reden: “Cripping up” wurden 25 Teilnehmer*innen aus den Arbeitsfeldern Journalismus, Programmgestaltung, Choreografie, Tanz und Wissenschaft begrüßt. Gastgeberinnen waren Astrid Kaminski (viereinhalbsaetze) und Anna Mülter. Die Dokumentation des Salons wurde von tanzschreiber unterstützt.
1. Einleitung: Entstehung des Salons
Meinungen werden hinter dem Bildschirm produziert, Argumente spielen dabei oft keine Rolle mehr. Die eigene Haltung drückt sich durch eine Verschanzung in Pro- oder Contra-Lager aus. Das gilt, wie der Streit um die Volksbühne in Berlin gezeigt hat, auch dort, wo es am unwahrscheinlichsten scheint: in der diskursaffinen Tanz- und Performanceszene. Die neue Salon-Reihe des Kollektivs Viereinhalb Sätze (4.5) will daher die Diskussion als Teil eines kritischen Diskurses innerhalb der Performance-Landschaft etablieren. Nicht eine Podiumssituation mit Debattierenden und Zuhörenden soll entstehen sondern ein Dialogformat, in dem die Teilnehmenden die gemeinsame Verantwortung für den Verlauf des Gesprächs übernehmen. Damit ist der Salon Teil eines experimentellen Umgangs mit kritischem Bewusstsein, das von Viereinhalb Sätze in verschiedenen Formaten zwischen Empathie und Distanz, Poesie und Reflexion, Journalismus und Kunst entwickelt wird. Die Teilnehmer*innen-Anzahl für den Salon ist begrenzt, so dass für das Gespräch kein Mikrophon nötig ist. Eingeladen wird von 4.5 und/oder weiteren assoziierten Gastgeber*innen. Idealerweise wird der Salon auch in andere Städte wandern. Wer selbst Gastgeber*in sein möchte, ein Thema setzen und es in schriftlicher Form dokumentieren, wendet sich gerne an Viereinhalbsaetze@gmx.net.
2. Anna Mülter eröffnet die Diskussion mit der Beschreibung einer Performance von Marcelo Evelin und den davon aufgebrachten Fragen.
Anhand der Choreografie „Dança Doente“ (Kranker Tanz) von Marcelo
Evelin bildet Anna Mülter, die als Kuratorin sowohl für die Sophiensaele
als auch für das tanzhaus NRW in Düsseldorf arbeitet, eine sensible Situation ab: Die Choreografie, die im tanzhaus NRW
genauso wie beim Festival Tanz im August (2017) gezeigt wurde, hat
intern wie unter Zuschauer*innen Fragestellungen ausgelöst, die nicht
ausreichend geklärt werden konnten: Wie ist die Darstellung spastischer
Bewegungen, die sich über zwei Drittel des Stücks erstrecken, zu
beurteilen? Handelt es sich um Bewegungsmaterial, das potentiell
Menschen, die sich mit spastischen Einschränkungen tagtäglich
auseinandersetzen müssen, verletzen könnte? Aufgrund der sensiblen
Thematik des Stücks möchte Mülter die Aufmerksamkeit und den Fokus der
Diskussion auf das Themenfeld der Körpervielfalt im Tanz richten. Die
Beschäftigung mit unterschiedlich eingeschränkten und virtuosen Körper
brauche neben einer intensiven Arbeit und Neugier auch die
Auseinandersetzung mit der eigenen Naivität, die das Unempfundene und
Ungedachte allzu schnell als „neu“ und „anders“ ausgibt.
„As I am educated in dance, looking at the movement there is not a
movement that is disabled or not disabled but there is a movement which
is strong or soft, which is shaking. To me, there isn’t a spastic
movement. We see that movement and connect it to a movement called
cerebral palsy. And then it is about the context in which we use that
movement.“
Dringende Ausgangsfragen sind: Wer tanzt welchen Part? Wer macht welches
Stück? Und wie kommen Künstler*innen, Kurator*innen und Kritiker*innen
über solche relevanten Fragestellungen ins Gespräch?
Do we want to laugh with people or laugh at them and make fun of them?
Astrid Kaminski beendet die Einführung mit der Frage, wie Diskussion und
Kritik ohne Bloßstellung und Anprangern möglich sind und wie sowohl
Künstler*innen als auch das Publikum sich der Auseinandersetzung stellen
können, ohne permanent Angst vor Fehlern zu haben.
“Is the term cripping up generally negative? Because I think it can be applied to movement. A muscle can spasm as a quality, and it is something that also gives life to us, so I think it is a very valid quality to be used by people who make movement. But then of course there is the contextualising…”
3. Kuratorium; Begriff Cripping up; Körperliches/kulturelles Eigentum; Bewegung und Kontext
Schnell kommt das Problem des Kuratoriums auf, das einschließlich der
diesbezüglichen Öffentlichkeitsarbeit/Werbung die Repräsentation von
Körpern auf der Bühne bestimmt. Wer kuratiert was, und mit welchen
Körperpolitiken haben wir es zu tun?
Ein*e Teilnehmer*in erinnert an die Terminologie des Worts „cripping up“
(auf die in der Einladungsmail zum Salon referiert wurde). Der für den
Abend relevante Gebrauch des Begriffs kommt aus dem Theaterbereich und
bezeichnet die Darstellung eines körperlich behinderten/eingeschränkten
Charakters durch eine*n nicht körperlich behinderte*n Schauspieler*in.
Die Teilnehmer*innen fragen sich, ob dies eine angemessen Referenz für
den Tanz sei, und ob es, falls sie tragbar ist, einen Unterschied mache,
ob ein körperlich behinderter/eingeschränkter Künstler* wie Michael
Turinsky seine (mit einem spastischen Muskelapparat verbundenen)
Bewegungen an Tänzer*innen vermittelt oder nicht körperlich behinderte
Tänzer*innen die Bewegungen selbst produzieren. An dieser Stelle wirft
die Diskussion die Frage nach der Imitation von Bewegung auf. Ein*e
Teilnehmer*in argumentiert, dass Tanz weder behindert noch
nicht-behindert (abled or dis-abled) sei, wir jedoch die Bewegungen
durch unsere jeweiligen persönlichen und kulturellen Hintergründe auf
bestimmte Art lesen würden – auch abhängig davon, wie sie durch die
kuratorische Rahmung kontextualisiert werden.
„I find there is a conflation of politics going on, like queering bodies, bodies of colour, bodies of disability, kind of being spoken about, discussed, curated under this umbrella of otherness. And it really diminishes the artists who are producing and labouring the work itself. I wonder how we can explode and take apart the discussion of the work itself. Sorry if I am misunderstanding, but I find it problematic this root of blackface or playing a trans-person being synonymous with many bodies and many discussions and bodies that don’t fit under a normative body in dance. I think we need to approach this even before we look at methodologies in creating, because this starts to seep into how things are made. To speak of othered bodies as an umbrella is problematic.“
4. Weitere Fragen zum Kuratorium; Repräsentation und Transformation
Um das Thema des Kuratoriums kommt weiterhin die Frage auf, weshalb alle als anders wahrgenommenen Körper oftmals in ein- und derselben Kategorie landen. Eine Teilnehmer*in argumentiert, dass Weißsein und körperliche Unversehrtheit durch jegliche Kategorisierung von nicht-weißen und „anderen“ Körpern als genau die Norm dargestellt werden, die in Frage gestellt werden soll. So würden Machtverhältnisse verstärkt, die wir doch eigentlich aufzulösen versuchen.
„There is this discussion everywhere in Europe about curators against artists. I am very concerned about it. It is leading to no good. I feel I have lived that before.“
Die Diskussionsrunde unterstreicht die Problematik einer zusammenfassenden Kategorisierung „der Anderen“ und die Notwendigkeit, ebenso Faktoren wie Herkunft, Klasse und Gender in jede Art von Auseinandersetzung zum Thema einzubeziehen. Gleichzeitig wird ein Bewusstsein gefordert, dass diese Faktoren zwar bewusst, jedoch weder als ein- und dasselbe noch als Quelle ähnlicher Erfahrungen der Betroffenen wahrnimmt.
„Maybe it could lead to something good? I never get to sit at a table and have discussions with curators like this. It’s hard for artists to speak up.“
5. Rollenverteilung und -ungleichheit; Machtverhältnisse
Eine Teilnehmer*in unterstreicht die Wichtigkeit der
Auseinandersetzung mit der cripping-up-Thematik über die Tatsache, dass
Schauspieler*innen mit Behinderungen keine körperlich behinderten Rollen
zugeteilt bekommen, hinaus. Denn als Schauspieler*in mit körperlichen
Einschränkungen andere Parts zu erhalten, sei gänzlich unmöglich. Ein*e
körperlich eingeschränkte*r Schauspieler*in erhält also weder eine
körperlich behinderte Rolle noch die Rolle eines körperlich
nicht-behinderten Charakters. Dasselbe gelt für
Trans-Schauspieler*innen. Zum Verständnis wird angebracht, dass dies
grundsätzlich ein Problem von Rollenungleichheit und Machtverhältnissen
sei. Der schöpferische Akt des Spiels kann erst voll zur Wirkung kommen,
wenn die Verhältnisse ausgeglichener sind.
Hier kommt die Frage nach den Mitteln auf: Wirken Imitation und die
Nutzung von Requisiten oder behinderungsspezifischen Hilfsmitteln
ähnlich oder ist das eine auch unabhängig vom anderen zu denken – z.B.
als bloße Virtuosität im Umgang mit verschiedenen Faktoren und
Materialien.
„I was thinking about that a lot too because acting and dancing is always imitating or representing something, so where do you draw the line? For example, using assistive devices, like crutches, for me this is okay or something different than imitating so called spastic movements, because there I feel the gaze of objectification so to speak, and this is sort of a prerequisite to imitation. So, I think this would still be problematic even if roles were more balanced. I think that imitating is still problematic because it can be related to insults in social life.“
Schließlich kommt die Diskussion auf den objektifizierenden Blick zu sprechen: Sich einem Gerahmtwerden auf der Bühne auszusetzen, ist im besten Fall eine freie Wahl. Wie aber ändern sich die Perspektiven, wenn es sich bei den Protagonist*innen oder den Zuschauer*innen um Menschen handelt, die die unfreiwillige Objektifizierung, die sie im Alltag erfahren, auf der Bühne zwangsläufig mitrepräsentieren respektive durch diese permanent auf sich selbst zurückgeworfen werden?
„If I can add, those with disabilities, especially those born with them, have a history of being objectified, of being studied, of being an object of medical curiosity, so I still don’t know what to make of it. It is something which is different than objectifying other people — but I still have to think about it…“
6. Die Sache mit der Empathie
Das Gespräch wendet sich dem Begriff der Empathie zu. Ist Empathie die erlösende Haltung, die vor Verletzung und Verurteilung schützt? Es wird hervorgehoben, dass Fairness oder eine freundliche Einstellung stark davon abhängen, von wem sie ausgehen. Gute Intentionen mögen verantwortungsbewusstes Handeln reflektieren, sie werden jedoch umso fraglicher, wenn sie mit einer gesellschaftlich dominierenden Position einhergehen. Es sind die Machtverhältnisse der „obersten“ Instanzen, die neu zusammengesetzt werden müssen, um ein Gleichgewicht der Wahrnehmungen zu schaffen.
7. Anderssein anders denken
Die Diskussion kehrt zum „Anderen“ (Körper) zurück: Ist es wirklich
notwendig, spezifische Festivals für den/die/das „Andere“ zu kuratieren?
Wäre es nicht angebrachter, damit zu beginnen, Raum zu schaffen? Oder
geht es um ein bewusstes Zurschaustellen von Dominanzverhältnissen und
dem öffentlichen Bruch damit?
„I keep thinking about one of the other guests said about the curation of the body, about putting everyone under one umbrella. But I think having those bodies enter the stage is important and we are just kind of stuck in that way that bad curation happens, but at least it is a way to allow in some diversity on stage. So a tricky but hopeful situation.“
An diesem Punkt tauschen sich die anwesenden Kurator*innen und Künstler*innen über den vielfach als paradox empfundenen Zwiespalt aus: Weder Künstler*innen noch Kurator*innen möchten als schwul, körperlich behindert oder schlicht „anders“ bezeichnet werden und sich darüber profilieren sondern, im Gegenteil, diese Kategorisierungen hinter sich lassen. Gleichzeitig fürchten sie sich davor, ohne eine entsprechende Selbstbehauptungsstrategie wieder zurück unter weiße, männliche, heterosexuelle Machtstrukturen zu fallen.
„It’s almost a paradoxical situation: we want to let go of identity politics, we should not only represent people by tags, labels, yet we still feel the need of finding ways to fight the „norm“. In my experience as a gay man, when in conversation with heterosexual friends, I feel every sentence I say is taken as universal about being gay.“
8. Die Frage nach Ausbildung und Zugang/Barrierefreiheit
Wer hat das Geld und das Privileg, Akademien, insbesondere
künstlerische Akademien, zu besuchen? Die Problematik, so der Duktus des
Gesprächs, beginnt bereits in der frühen Schulzeit, und selbst wenn
weiterführende Ausbildungsinstitutionen sich einer größeren Vielfalt an
Studierenden öffnen, treffen viele Bewerbungen bei ihnen gar nicht erst
ein. Die Teilnehmer*innen stellen sich die Frage, weshalb gerade
Deutschland in der inklusiven künstlerischen Ausbildung und der
öffentlichen Bereitstellung von Möglichkeiten so weit hinter anderen
europäischen Ländern zurückliegt. Wie viele Kinder mit körperlichen
Behinderungen/Einschränkungen erlauben sich in Deutschland den Wunsch,
Jazz-Musiker*in oder zeitgenössische*r Tänzer*in zu werden? Wie können
wir das ändern?
Ein*e Teilnehmer*in macht außerdem auf die unangenehme Tatsache
aufmerksam, Gäste in ein nicht-barrierefreies Theater einzuladen: Nach
Hilfen wie einem Aufzug muss erst gefragt werden, anstatt dass sie
einfach da wären, sichtbar und zugänglich.
“The problem starts a lot earlier, in education. So for me the problem starts with the academies which are pre-enacting what is waiting for people even before they enter the stage theatres.”
9. Aspekte der Rahmung und Förderung
Wir fragen nach der Rolle und Relevanz der Themen-Rahmung bzw. der
Kontextualisierung eines Stücks. Ist es beispielsweise nötig, ein Stück
an sich zu rahmen (bspw. als „inklusive“ Arbeit) oder es durch ein
Nachgespräch zu erklären? Oder ist es besser, ein Stück von anders
begabten Künstler*innen nicht weiter als solches zu definieren? Hängt es
von der Qualität ab und woran wäre diese zu messen?
Manche argumentieren, dass es Sache des*der Künstler*in sei, wie er*sie
gezeigt werden möchte. Von Kurator*innen-Seite wird argumentiert, dass
dies zwar ideal sei, jedoch praktische Probleme wie Fördermittelvergaben
und Publikumsgenerierung auch eine Rolle spielen. Eine bestimmte
Rahmung kann helfen, die Notwendigkeit für ein Thema ins Bewusstsein zu
bringen, diese ist dabei oft eine Kompromisshandlung. So wie das
Fördersystem momentan funktioniert, sind bestimmte Themensetzungen nicht
zu umgehen, um Geld zu erhalten.
Ein*e Journalist*in stellt das Problem dar, dass Artikel ebenfalls
kategorisiert werden müssen, um von der*dem Redakteur*in/Herausgeber*in
beauftragt zu werden.
10. Geistige/körperliche Eignerschaft von Bewegung; Fehler begehen; Barrierefreiheit von Veranstaltungsorten
Jemand stellt die Frage, wer die geistigen und körperlichen Rechte an einer Bewegung besitze. Ist es in Ordnung, wenn ein*e körperlich behinderter/eingeschränkter Künstler*in die eigene Technik oder Ästhetik verkauft, nicht aber, wenn Tänzer*innen ohne sichtbare Einschränkungen diese selbst erlernen? Können wir nur auf Dinge einen Anspruch erheben, die uns auf natürliche Weise zukommen? Wer besitzt Bewegung? Was ist körperliches/kulturelles/geistiges Eigentum? Anteilnahme und Engagement, so ein Vorschlag, erteile einem ein gewisses Recht. Damit sind jedoch nicht alle in der Runde einverstanden.
“Marie Chouinard, this is a valid discussion. I also have a friend who taught able bodied people at Cirque du Soleil how to work with crutches. So is it okay for him to sell this technique or aesthetic but not able bodies to learn it themselves? Do you only have property rights to things that come to you naturally? Who owns movement? What is ownership? Where does the ownership come in culture? I think it is about participation, when you participate you can use something. Sorry. I am very allowing in that sense. Especially for the artist. Creativity doesn’t come out of so many boundaries. I think it goes over things. That is important. I don’t think anyone owns movements. Everyone has Nijinsky movements like this (poses), but at the time they were offensive, now they are decorative. This is the area of theory, this is how we think, we think we theory and concepts, but if art is not a different practice than theory or politics, then we are losing something.”
Es kommt daraufhin die Frage auf, wie wir zu der Definition von
angemessener oder unangemessener Bewegung gelangen. Nijinskys
Choreografien stellten vor 100 Jahren Moral und Geschmäcker auf andere
Art in Frage als sie das heute tun würden. Lässt sich das auch für
aktuelle Choreografien mit angeeigneten Bewegungen ähnlich voraussagen?
In dieser Beziehung wird darauf hingewiesen, dass es eine Gefahr
darstellt, wenn sich die Kunst nicht von Diskurs und Theorie freimachen
kann, sondern ihnen unterordnet. Das sei bedenklich und führe zu einer
Angst davor, sich jenseits eines dominanten Diskurses zu bewegen und für
den Verstoß dagegen geahndet zu werden. Ein*e Teilnehmer*in bricht eine
Lanze für Fehler, sogar für große. Als Grundlage des Darüber-Redens,
nicht des Verurteilens.
11. Freiwillige und unfreiwillige Performance
In Fortsetzung der Frage nach einem „körperlichen Eigentumsrecht“ auf Bewegung, wird der Unterschied zwischen Personen, die Bewegungen freiwillig ausführen und Personen, die Bewegungen unfreiwillig ausführen, hervorgehoben. Wenn bestimmte Bewegungen auf der Bühne dargestellt werden, mögen sie als interessant geschätzt werden. Im alltäglichen Leben fühlen sich Menschen mit körperlicher Behinderung/Beeinträchtigung oft exponiert. Sie haben das Gefühl (beziehungsweise: es wird ihnen vermittelt), dass ihre Bewegungsabläufe dumm und sinnlos wirken. Das prägt, daher gilt der Widerspruch: Auf der Bühne gibt es die Freiheit der Wahl, auf der Straße jedoch nicht.
12. Kritische Annäherung
Ein*e Journalist*in fragt, wie sie sich all diesen Themen kritisch nähern kann. Ihr eigener Körper sei zwar problematisch, gehöre allerdings nicht in oben genannte Kategorien, weshalb sie sich in ihren Möglichkeiten beschränkt fühlt, besorgt und unsicher dem gegenüber, was sie schreiben oder sagen kann.
„I ask myself a simple and bad question: can I critique a different abled body? I have a different body, a lot of body problems, but I am not fitting these labels, so my position as a critic is very difficult still. So I wonder about your concerns or advice for my position.“
Selbige*r Teilnehmer*in macht ebenso darauf aufmerksam, dass sich Repräsentation im Tanz stark vom Schauspiel unterscheidet. Im zeitgenössischen Tanz gebe es nicht besonders viel Nachahmung, und Stücke seien oft für diejenigen Performer geschrieben, die sie auch aufführen. Uns fehlen definierte Kriterien und die Ausdruckssprache für solche Interpretationen.
„I think it has to do with participation. Maybe if you’re really engaged with it, it opens a different level of understanding the body with which you are working.“
Es kommen Fragen zu Partizipation und Engagement auf: Wie messen wir
das eigene Engagement und besonders dasjenige der anderen? Und wir
beurteilen wir dieses?
How do you measure that? How do you measure your own engagement? If I need to curate on those terms, how do I know?
Wenn Hintergründe und Ausbildung sich so stark voneinander
unterscheiden, so die Diskussionsrunde, können wir uns nicht
vollumfänglich verstehen – wir sprechen unterschiedliche Sprachen und
bezeihen uns auf unterschiedliche Erfahrungen. Das Englisch, das
beispielsweise in der Kunstwelt gesprochen wird (und das einen Teil des
Gesprächs dominiert), ist nur einer sehr kleinen, privilegierten Schicht
verständlich.
13. Künstlerische Haltung
Einige Künstler*innen ziehen ihre Teilnahme an Festivals zurück, wenn dort Arbeiten wie diejenigen von Marie Chouinard gezeigt werden. Manche Künstler*innen nehmen dementsprechend selber die Verantwortung auf sich und setzen klare Grenzen.
14. Verlauf der Diskussion; Die Sprache der Kritik
Zwei Teilnehmer*innen äußern ihre Verwirrung bezüglich der Diskussion
und hinterfragen deren Sprache, Ziele, Definitionen und ihren Zweck.
Ein*e weitere*r Teilnehmer*in versteht zwar die Diskussion an sich,
fühlt sich jedoch ausgeschlossen und unfähig, in gleichem Vokabular zu
antworten, das bisher für die Unterhaltung genutzt wurde. Sie verbindet
ihre Wahrnehmung mit der Erfahrung beim Schreiben von Anträgen und der
Notwendigkeit, bestimmte Schlagwörter und Themenfelder anzusprechen, um
überhaupt gefördert zu werden.
Ein*e ander*e Teilnehmer*in beobachtet die Verwedung desselben Vokabulars auch in der journalistischen Kritik. Eine negative aber kreative Kritik, die eine eigene Sprache benutzt, werde lieber gesehen als eine, die abstrakt und akademisch vorgeht. In letzterem Fall trete das Gefühl auf, Objekt einer Studie zu sein.
15. Frauen in der Kunst; Reicht es aus, eine erfolgreiche Frau zu sein?
Wie gehen wir mit gegensätzlichen Interessen um? Als Beispiele werden
Pina Bausch und Marie Chouinard diskutiert, zwei von nur sehr wenigen
Frauen, die es geschafft haben, in der zeitgenössischen Kunstwelt ihre
eigene Kompanie zu etablieren. Rechtfertigt das die inhaltlichen
Komponenten der Arbeit. Das heißt, sollte der Aspekt des gegen
Widerstände Erreichten über das Diskussionswürdige z.B. von
Choreografien gestellt werden?
Ein*e weiter*e Teilnehmer*in provoziert, dass auch Diktaturen für eine Zeit lang gut funktionieren würden.
16. Schlechte Vergleiche
Eine Teilnehmerin hinterfragt den ständigen Vergleich zwischen Cripping Up und Blackfacing. Zwischen diesen Begriffen und ihren Bezügen bestünde ein großer Unterschied. Wenn wir über mehr als nur ein Problem sprechen wollen, müssen wir auch über Themen wie Rasse („race“), Gender, Klasse und Körper sprechen. Das macht die Sache zwar komplizierter, ist aber zum Verständnis des großen Ganzen notwendig.
„I wonder about this: is it okay to critique racism or sexism in a way that it isn’t okay to critique class? Do we use condoned critiques to hide our uncomfortability with, say, class or race differences?“
17. Sprache und Ausgrenzung; Vorurteilsebenen
Wir hinterfragen erneut die hier verwendete, theoretische Kunstsprache und kommen auf problematische Klassifizierungen der Diskriminierung innerhalb von Diskursen, die sich für bestimmte Gruppen einsetzen, zu sprechen, z.B. wenn ein*e Künstler*in nicht „brasilianisch“ oder „schwarz“ genug ist.
18. Intention und Bevormundung
Ein*e Teilnehmer*in weist auf die Relevanz künstlerischer Intention
hin. Ein*e anderer Teilnehmer*in argumentiert dagegen: Wie kann man sich
der Intention wirklich sicher sein? Was ist mit dem
Sprach-/Kulturunterschied? Und ist es nicht bevormundend, die
Intentionen einer Person ohne Weiteres vorauszusetzen oder
anzuprangern?
Wann genau bevormunden wir andere Menschen? Hierüber ließe sich länger
nachdenken. Wann beurteile ich etwas nicht? „Gutmütigkeit“ bringt nicht
immer nur gute Dinge hervor. „Empathie“ kann sich in „Mitleid“
verwandeln, sagt ein*e Teilnehmer*in, und „Mitleid“ sei das Letzte, was
sie sich wünsche.
19. Abschluss
Astrid Kaminski schließt die Runde und dankt allen für ihr offenes Teilen von Meinungen und Erfahrungen.
Teilnehmer*innen:
Sasha Amaya, Ricardo Carmona, Florence Freitag, Mirjam Gurtner, Nik
Haffner, Beatrix Joyce, Astrid Kaminski, Joy Kalu, Georg Kasch, Göksu
Kunak, Rebecca Maskos, Josefine Mühle, Anna Mülter, Elisabeth Nehring,
Elena Philipp, Bernhard Richarz, Liz Rosenfeld, Silke
Schönfleisch-Backofen, Martin Seidler, Dasniya Sommer, Ahmed Soura,
Virve Sutinen, Sandra Umathum, Maja Zimmermann
Protokoll: Sasha Amaya / Deutsche Fassung: Redaktion 4.5 / Fotos: Beatrix Joyce