„Apollon Musagète“, Florentina Holzinger © C. Radovandranga

Denn sie wissen genau, was sie tun

Florentina Holzinger greift in „Apollon Musagète“ in den Sophiensaelen mit einem Sextett aus fünf Musen und einem Gott zu den Wolken.

Ist es ein Qualitätsmerkmal, wenn sich die ersten Gespräche nach einem zweistündigen Theaterabend darum drehen, ob die Performerin den Luftballon tatsächlich geschluckt hat und wenn, wie das überhaupt funktioniert mit der Luftröhre und im Magen? Dazu muss gesagt sein, dass „Allon Musagète“ wohl zu einem dieser wenigen Stücke gehört, die erst mit einigem Abstand ins Bewusstsein vordringen, ihre Wirkung im Nachhall entfalten und sich dann aber in wahrnehmungsästhetische Tiefenschichten schrauben.

Denn Florentina Holzinger hat sich mit diesem epischen Werk sozusagen selbst übertroffen: Bekannt für einen radikalen Umgang mit dem eigenen Körper, Erschöpfung, Selbstdarstellung und Grenzüberschreitung scheißt sie ein weiteres Mal (in echt) auf Konventionen und auch darauf, ob dieses Stück in seiner Länge und totaler Überfrachtung aller szenischen und ästhetischen Mittel überhaupt noch ‚konsumierbar‘ ist. So ist es vielleicht kein Wunder, wenn man nach diesem zweistündigen Trip voller Bild-Gewalt auf der einen und nonchalanter Performerinnen-Attitüde auf der anderen Seite etwas mitgenommen erwacht und die Übertreibung der Darstellung dazu führt, dass das Hingucken zu einer ermüdenden Angelegenheit wird, von wegen: „Hab ich mir irgendwie krasser vorgestellt / so schlimm war’s ja doch gar nicht “ – die Zuschauer*innen auf ihren eigenen Voyeurismus zurück geworfen. Überlänge als Zurückweisung von… ?

Andererseits gibt es da gar nicht allzu viel zu theoretisieren: Sechs Frauen – die meiste Zeit nur mit Mikrophon bekleidet – Gewichte stemmend, psychedelische Rodeo-Ritte, Selbstverletzungs-Showeinlagen, Fetischparty. Echtes Blut, echte Kacke, echte Körper und ganz viel Theater-Maschine. Neben all den Nadeln, den Luftballons und Schwertern in den Speiseröhren ist leicht zu übersehen, dass die wohl anstrengendste Szene ein bis zur Erschöpfung aufrecht gehaltender Spitzentanz in Balletschuhen ist. Wie viel Selbstgeißelung kann eine (noch) Muse ertragen?

Es gehört schon einiges dazu, diese Art von Performance, mit all dem Schock-Potential, all dem Sex und der Explizitheit so in Szene zu setzen, dass es zu keinem Moment platt, unangenehm oder stupide wirkt. Florentina Holzinger entlarvt im Gegenteil Phantasiebilder von weiblichen Körpern – in Zwangslagen, überhöht, in Schmerz, in Misslagen. Warum sonst halten sich all die Formate, in denen Frauen halbnackt im Schlamm gegeneinander ankämpfen hartnäckig im Showbiz? Was steckt hinter all den Geschichten, in denen Frauen zu Opfern gemacht werden? Eine seltsame Verschränkung von Schönheit und Ekel, Gewalt und Anbetung liegt über dieses Szenen – ein Kaleidoskop aus Sehnsuchts- und Furchtbildern, die wir allzu gut kennen… Hier sind jedenfalls Profis am Werk, die ganz genau wissen und entscheiden, was und wem sie damit einen Gefallen tun. „Hey little Girl, is your Daddy home?“

Die Stärke dieses Stücks liegt dann auch in der Umkehrung von Rollenzuschreibungen. Wenn die „Musen“ in verzerrten Engelsstimmen zu sich / zu den Wolken rufen oder als Cowgirl eine ziemlich beängstigend-lustige Show abziehen. Die Augen der Performerin drohen beinahe aus ihren Höhlen zu fallen, wenn sie die Flinte auf das Publikum richtet und wie von der Tarantel gestochen durch den Raum rennt… Zurück zu all den Frauen, die über ihren Schmerz selbst bestimmen, die auf Porno stehen und davon abgesehen beängstigend furchtlos sind. Das ist alles auch nichts Neues mehr (zum Glück) – was Florentina Holzinger jedoch auszeichnet, ist ihr Gespür für Bilder, Choreografie, Bühnenbild und eine Abgeklärtheit, die alle Apollons erblassen lässt.