„Störlaut“, Jule Flierl

Die Stimme tanzt.

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Jule Flierl lässt für ihre Soloperformance „Störlaut“ in den Sophiensalen Valeska Gerts „Stimmtänze“ verlauten und sich für Unstimmigkeit erheben.

Die Stimme ist vielleicht eines der letzten Relikte eines Mythos des ‚Authentischen‘. Stimmen verlassen Körper und weisen diese scheinbar als ‚jung‘, ‚alt‘, ‚männlich‘, ‚weiblich‘, ‚verrückt‘, ‚vertrauenswürdig‘ etc. aus. Dass wir unsere Stimmen auch verstellen können, lässt uns nicht daran zweifeln, diese eine ‚richtige‘ Stimme zu besitzen. Unsere Stimme gehört so unmittelbar zur Vorstellung eines ‚authentischen‘ Selbst, wie sie gleichermaßen mysteriös bleiben muss – nicht zu lokalisieren, schwer zu bestimmen, kaum glaubwürdig zu imitieren.

Jule Flierl tanzt mit ihrer Stimme gegen diese Vorstellung an. Sie verschafft sich und einem ganzen abwesenden Chor von Stimm-Tänzer*innen ein Gehör, die „störlaut“ ihre Stimmen gegen das Establishment erheben, allen voran Valeska Gert, deren Erbe Flierl für diese Soloperformance künstlerisch bearbeitet hat. „Störlaut“ ist darum auch das Ergebnis einer langen Archivrecherche Flierls zu Valeska Gerts „Stimmtänzen“, die als Material die zeitgenössische Performance durchkreuzen, ohne dass sie aus der Zeit gefallen wirken. Es steht also nicht der historischen Wert Gerts im Sinne eines tanzgeschichtlichen Kanons im Vordergrund (was ihr selbst wohl auch widerstrebt hätte) – in unserer Vorstellungskraft ruft die Performerin hier eine kontroverse Versammlung von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Stimmen auf den Plan.

Insofern geht auch etwas Magisches vor sich, wenn Jule Flierl in der Kantine der Sophiensaele ihren Oberkörper sich aufbäumen lässt, die geschlossenen Augen hinter den Höhlen verdreht, den Kopf in den Nacken wirft, und krächzende, fliehende Laute ihre Kehle verlassen. Ihr Einatmen rauscht an den Stimmbändern vorbei, Röcheln und Schnaufen sägt sich in unsere Köpfe, eine unbestimmte Metamorphose ihres Körpers geht vor sich – Todeskampf und Wiedergeburt zugleich.

Valeska Gert, selbsternannte „Schocköse“ der 20er Jahre, steht bis heute für den grotesken, widerständigen Tanz, sie selbst für eine Künstlerin, vor der das Bürgertum nur kapitulieren konnte. Auf der Flucht vor den Nazis, im Exil und später in den 70er Jahren wiederentdeckt, fühlte sie sich ihrer Zeit voraus und hat (in dieser Voraussicht?) selbst an ihrem Fortbestehen in Autobiografien und einem gut geführten Archiv geschrieben.

2018: Die Gestalt in roten Schuhen auf blauen Sneaker-Stelzen, mit schwarz getuschten Augen und übertriebenen rot-verschmierten Lippen, tritt immer wieder aus der Performance zurück und schaltet in einen Lecture-Modus um. Sie spricht darüber, wie sie sich selbst zum historischen Material, zum Kanon, in Verbindung stellt, reißt Diskurse zum „neutralen Körper“ des Postmodernen Tanzes an oder stellt Gerts Aussagen zum eigenen Künstlerinnen-Mythos aus. Diese Gedankenanstöße strukturieren die Szenen, schaffen Distanz und lassen die Performerin eben nicht zur Identifikationsfigur werden. Flierl widmet sich in dem Blick zurück auch Dissonanzen und Unstimmigkeiten im Umgang mit dem Material, sie formuliert weder eine Hommage noch eine distanzierte Revision zu Valeska Gert. Die tanzenden Stimmen, die sie über die Aufführung etabliert, sprechen für sich selbst, um sich gleich wieder zu entziehen. Abgründe tun sich auf.

HiHiHi HaHaHa HuHuHu JaJaJa*1 Jule Flierl arbeitet schon seit vielen Jahren an der Brüchigkeit zwischen Stimme und Bewegung, Körper- und Stimmbildern. Dabei verlässt sie zuweilen die Grenzen der eigenen (der menschlichen?) Gestalt und fordert das Publikum heraus, diesem Anblick stand zu halten. So changiert auch meine Zuschauerinnen-Haltung zwischen anerkennender Faszination (Wie sie das durchhält!), amüsierter Begeisterung und einem nicht zu verleugnenden Geplagt-Sein: Die Stimmen, die Grimassen und verzerrten Körper, die entstellten Wörter verfolgen mich. Ihre Arbeit berührt Dimensionen von Vorsprachlichkeit und Ur-Gefühlen, die hörbar und sichtbar werden, wenn sich ihre Gesichtszüge zu schrägen Grimassen formen, um ihr alsbald zu entgleiten. Seufzer, Stöhnen, Knurren und Knarzen…Schreie und Lachkrämpfe schütteln ihren Körper zwischen Lust, Schmerz, Wahnsinn und Ekstase.
Artikulation ist vor allem emotional und physisch, bevor sie an Bedeutung gewinnt. Flierls und auch Gerts Auftritte erinnern daran, dass Tanz eine Kunst ist, die andere Qualitäten von Sinnproduktion erreichen kann. Die etablierte Sprache lässt sich ein Stück auseinander schrauben, tiefere (aber nicht minder widersprüchlichere) Schichten von Kommunikation werden berührt.

Das Groteske erscheint jedoch nicht als sogenannte ‚Kehrseite‘: Mit Rekurs auf Gert erklärt Flierl: Realität sei grotesk, Erfahrungen, soziale Dynamiken seien grotesk – der groteske Tanz könne also als ausgesprochen realistisch gelten. Realität und Verzerrung überlappen sich, in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht minder als heute.

*1 Aus dem Stimmtanz „Hysteria“ – Zitat aus der Begleitpublikation zum Stück.