„Gland“, Kat Válastur © Dorothea Tuch

Die Kunst künftiger Körper

Die jüngste Werkschau am HAU Hebbel am Ufer widmete sich der Choreografin Kat Válastur

Die unheimlichsten Metaphern sind die, von denen man ahnt, dass sie sehr präzise sind, von denen man aber trotzdem nicht weiß, wofür sie stehen. Sie sind wie das unbekannte Wort in einer anderen Sprache. Oder Ideen ohne erlösendes Logos. Etwas ist wie etwas anderes, aber wie was? Im Tanz finden sich viele solcher Metaphern, etwa wenn technische Übungen von konkreten Imaginationen gesteuert werden und eine bestimmte Atmosphäre und Bewegungssprache entsteht. Das Schwierige ist, sie festzuhalten, zu kategorisieren. In diese Welt der unfassbaren Gleichungen wagt sich die Tänzer-Choreografin Kat Válastur. Baut Gerüste zu neuen Welten und baut das Gerüst dann wieder ab, bevor die Treppe steht.

Mit ihrem Zyklus „Oh! Deep Sea“ hat sie noch in umgekehrter Richtung gearbeitet und mittels Bewegung Archetypen der Odyssee untersucht. In ihrem darauf folgenden Zyklus „The marginal Sculptures of Newtopia“ schuf sie nicht auf Grundlage eines Gegebenen, sondern entwarf die Fiktionen, in die sich die Körper einlebten, selbst. Wie sie mehrfach im Programm-Material zu ihrer Arbeit formulierte, entwickelt Kat Válastur Bewegungsfolgen auf Basis von Subtexten – „Konstellationen von Gedanken“. Das ist an sich nicht ungewöhnlich. Die Energie und Präzision aber, das gefundene Material weiterzudenken, ist es. Das Wiederholen physischer Gesten mit dem Ziel, sie zu etablieren und dadurch Wissen zu generieren, wird bei ihr zu einer tänzerischen Befragung utopischer wie dystopischer Zustände.

Museumsbegriff auf Theater angewendet

Kat Válastur ist nach Schubot & Gradinger und Isabelle Schad nun die dritte Berliner Choreografin, der eine Werkschau am HAU Hebbel am Ufer gewidmet wird. Die davor letzte Werkschau galt Mette Ingvartsen, die ab dem Sommer an Dercons Volksbühne anfängt, ihren Lebensmittelpunkt zwar bislang in Belgien und Frankreich hatte, aber schon lange am HAU ihre Arbeiten zeigt. Damit zeichnet sich auch ab, welche Funktion das Format Werkschau im Tanzbereich des HAU einnimmt: Es kreiert Aufmerksamkeit für Künstler*innen, die auf der mittleren Karrierestufe angekommen sind und durch den Programmschwerpunkt die Möglichkeit bekommen, sich mit ihrem eigenen Werk(begriff) zu konfrontieren, ihn für sich und das Publikum auszuleuchten.

Bei Schubot & Gradinger sowie bei Isabelle Schad klappte das am besten. Die Tatsache, dass die gezeigten Arbeiten, aufeinander aufbauend, einer unmittelbar fassbaren Kohärenz folgten und teils in der Reihenfolge ihrer Entstehung hintereinander gezeigt werden konnten, kam dem Anlass entgegen. Válastur und Ingvartsen arbeiteten in den letzten Jahren zwar auch sehr themenzentriert, näherten sich ihren Fragen aber in formal jeweils unterschiedlichen Anordnungen und Ästhetiken. Dafür einen Rahmen zu finden, der dem Museumsbegriff der Werkschau gerecht wird, der ja auch mit einem zum Vergleich einladenden Nebeneinander assoziiert wird, scheint schwieriger. Die Wahrscheinlichkeit, dass Zuschauende an mehreren Abenden nacheinander ins Theater kommen, ist eher gering. Und der Versuch, die Werkverdichtung durch Installationen in Foyers und Treppenhäusern der HAU-Spielstätten herzustellen, hätte in Konzeption und Ausführung mehr Format gebraucht: Die Installationen wirkten in Válasturs Fall zu gewollt als Brücke zur Bildenden Kunst und dabei gleichzeitig zu kunsthandwerklich.

Ixchel Mendoza Hernandez / Der Mensch der Anthropozän

Aber das ist eher ein Schönheitsfehler, wenn auch ein bedauerlicher. Es zählt die Möglichkeit, die Trilogie „The maginal Sculptures of Newtopia“ als Werkgruppe zu sehen, gerahmt durch zwei weitere Arbeiten. Was dabei am meisten ins Auge sticht, ist die Perfektion, zu der Kat Válasturs Zeitraffer-Tanztechnik inzwischen gereift ist. Bestes Anschauungsobjekt dafür ist neben der Choreografin selbst auch die Tänzerin Ixchel Mendoza Hernandez, die zuletzt in der Serie „Oh! Deep Sea“ zu sehen war, und die nun, zum Glück der Besucher*innen, Teil der performativen Installation „Samsa Samsa Samsa“ (Válastur zusammen mit Leon Eixenberger) ist. Perfekt schafft sie es, die Bewegungsrichtungen der Gliedmaßen voneinander zu isolieren, die gleichzeitig mechanisch und ätherisch wirkenden, stroboskoplichtschnellen Stop-Motion-Bewegungen anzusteuern. Wie an verschiedene Schaltkreise eines manipuliert und dabei doch natürlich wirkenden Energieflusses angeschlossen, performt sie den Menschen des Anthropozän.

Dieses Weiterdenken des Menschen oder vielmehr des menschlichen Bewegungsapparats im Bezug auf eine technisch fortgeschriebene Evolution prägt „The maginal Sculptures of Newtopia“ in noch drei weiteren Variationen: Das Solo „Gland“ ist zunächst von einer moonwalk-artigen, unbekannten Luftdruckbedingungen gehorchenden Bewegung geprägt, die immer mal wieder begleitet wird von nicht einzuordnenden Funktionsgeräuschen (z.B. einer Mischung aus Scanner und Staubsauger). Später geht sie über in die bereits beschriebene Zeitraffer-Ästhetik. Offensichtlich herrschen hier Mischverhältnisse zwischen extraterrestrischer und exterritorialer im Sinn von funktionsentfremdeter Bewegung. Das Bühnenbild, das wie ein entlang der Diagonale aufgeschnittenes Raumlabor wirkt, verstärkt diesen Eindruck. Ein Motorik-Forschungsprojekt, das sich weniger der praktischen Anwendung als den Funktionsweisen von Bewegung widmet, der Segregation von Abläufen.

Relikte, Rudimente, Verstofflichung

Daran anschließend ist es in „Ah! Oh! A Contemporary Ritual“ dann eine zerdehnte, comicartig überzeichnete Tanzsprache, die eine postapokalyptische Funktionsentfremdung automatisierter Handlungen zu spiegeln scheint. Selbst das Tanzen ist an diesem, an eine Clubatmosphäre erinnernden dunklen Nicht-Ort nur mehr ein Schatten der Erinnerung. Schritte im Kreis, gekoppelte Bewegungen, die nicht in einen Rhythmus finden, sich nicht mit Schwingungen assoziieren können, sondern, wie um eine Erinnerung heraufzubeschwören, immer und immer wieder buchstabiert werden. Bewegungen sind hier Relikte, Rudimente nicht mehr vorhandener Handlungen – wie die Phantombewegungen eines abstinenten Rauchers oder die verbogene Wirbelsäule einer ehemaligen Violinistin.

In „OILinity“ (das ich nur zur Premiere und nicht während der Werkschau gesehen habe) verschmelzen die Bewegungen schließlich mit dem äußerst plastischen Sound von Filippos Kavakas, der wie eine Mischung aus biochemischen Vorgängen und Industrial Groove klingt. Es rauscht, es knackt, zähe Masse blubbert, ein Reiben wie von tektonischen Platten, Torsionen, Luft gegen Luft. Die Tänzer*innen tunen sich in diese Geräuschmassen mit hühnerartigen Nachsetzbewegungen ein, bilden erst eine Art skulpturale Molekularverbindung, später immer mehr einen Schwingungskörper. Es entsteht eine Textur, die sich in ihrer Mischung aus mechanisierten, immer Roboting-artiger werdenden Impulsen und Schnapp-, Quell-, Rückstoß- und verschieden dichten Kontraktionsbewegungen perfekt in das organisch-industrielle Soundscape einpasst. Hier wirkt es, als habe das Material – in diesem Fall das Öl als Bestandteil unzähliger Materialien – sich die Körper anverwandelt, indem es sie einerseits physisch durchdringt und anderseits psychisch ihre Affekte steuert.

Analoge Avatare

Ist es zwingend, von diesen Spielarten eines zukünftigen Körpers, diesem Glossar utopischer Bewegungsapparate des Anthropozäns, eine Verbindung zum Titel der Werkschau „We were better in the future“ zu legen? Meinem Gefühl nach nicht. Der Titel, der sich zugleich als Versprechen und utopischer Rückblick lesen lässt, mag anklingen lassen, dass die Welt, für die Kat Válastur ihre Bewegungen entwickelt, noch nicht eingetreten ist, die Motorik daher noch optimiert werden wird. In dem zehnminütigen Zugabe-Solo „Kat Válastur was better in the future“ zum Abschluss der Werkschau, in dem die Choreografin ihre dissoziierte Zeitraffer-Ästhetik noch einmal glänzend vorführt, verhilft ihr die Titelvariante zudem dazu, sich selbst in eine Kunstfigur zu verwandeln. Grundsätzlich aber sind ihre Einworttitel „Gland“ (u.a. Drüse) oder „lang“ besser als die narrativen. Vielleicht weil sie ihre Nähe zum Minimal Dance ausdrücken, die sich in „lang“, einer in die Werkschau integrieten nahezu perfekten Miniatur von 2009, sogar formal-ästhetisch, in den Nachfolgestücken eher in der Konzentration und Konsequenz der Bewegungsforschung an einzelnen Modulen nachvollziehen lässt. Denn das ist ja bei aller Zukunftsprognostik das Eigenartige bei Kat Válastur: Ihre Tänzer*innen funktionieren analog. Vielleicht, weil digital ansteuerbare, humanoide Bewegungen eben gerade noch nicht besser und damit Tänzer*innen als Avatarmodelle technisch bislang absolut überlegen sind.