„Tanz in der DDR: Was bleibt?“, Saša Asentić & Collaborators © Willehad Grafenhorst

„Der Staat ist ein Betonkopf.“

Saša Asentić begibt sich im Rahmen des Sophiensæle-Festivals Das Ost-West-Ding mit seinen Kollaborateur*innen und Zeitzeug*innen auf die Spuren vergessener Tänzer*innen: „Tanz in der DDR: Was bleibt?“

Diese Spurensuche fängt mit „Liebe“ an. Die Tänzerin Berit Jentzsch performt zu Beginn dieses Abends den vielleicht bekanntesten Teil aus Dore Hoyers Tanzzyklus „Affectos Humanos“. Beide Hände sind wie zu Schwanenköpfen ineinander gefaltet – Fingerspitzen und Daumen berühren sich, kreisen umeinander und treffen sich schließlich im Kuss. Dore Hoyer, Ausdruckstänzerin und Ausnahmekünstlerin, hat ihrem Leben 1967 in West-Berlin ein Ende gesetzt, nachdem sie für ihre Kunst in diesem Deutschland keine Zukunft mehr gesehen hatte. Anerkennung für ihr künstlerisches Schaffen hat sie zu Lebzeiten vor allem in Argentinien gefunden, während sie auf den Bühnen ihrer Heimat kaum bestehen konnte. Das Publikum der Nachkriegszeit wollte keinen Ausdruckstanz mehr sehen, der klassische Tanz und der Volkstanz erlebten stattdessen in ihren Funktionen als Hochkultur oder Zerstreuung ein Revival. 

Dore Hoyers Beispiel steht auch heute dafür, dass Tanz nie im luftleeren Raum stattfindet, sondern im Rahmen des politischen und gesellschaftlichen Klimas seiner jeweiligen Zeit beeinflusst, sichtbar oder unsichtbar wird. Die „Affectos Humanos“, fünf gleichnamige Tänze der menschlichen Affekte „Ehre/Eitelkeit”, „Begierde“, „Haß“, „Angst“ und „Liebe“, haben längst in den tanzwissenschaftlichen und künstlerischen Kanon Einzug gefunden und eine Wiederentdeckung durch zahlreiche zeitgenössische Künstler*innen erfahren (so wie in Martin Nachbars inzwischen selbst kanonisch gewordenem „Urheben Aufheben“). Wenn wir uns mit der Tanzgeschichte beschäftigen, drängt sich zwangsläufig die Frage nach jenen Protagonist*innen auf, die aus der Geschichtsschreibung heraus gefallen sind. Hinter dem Archiv stehen immer auch bestimmte Mechanismen von Erinnerungskulturen – und Gedächtnissen (Erinnern vs. Vergessen). 

Erinnerung und Archiv sind keine unschuldigen, sondern hart umkämpfte Gebiete. Saša Asentić und Alexandre Achour erklären, dass es auf ihrer Suche nach dem Tanz in der DDR vor allem um Liebe gehen soll. Welche Spuren also bleiben von Künstler*innen, die mit, gegen und jenseits eines Systems gearbeitet haben, das es nicht mehr gibt?

Wir werden an diesem Abend als Publikum gemeinsam durch den Raum schreiten, einzelne Performer*innen entkleiden, uns (wenn wir können) an den Mauerfall 1989 erinnern, etwas über abwesende oder vergessene Tänzer*innen lernen, den Opfern des Militärputsches in Chile 1973 gedenken und uns vielleicht mit dem Blick zurück für eine Zukunft wappnen, denn: „We move to a future, of which we are already a past.“ Die Herausforderung – Rückblick ohne Eitelkeit, ohne Begierde, ohne Hass, ohne Angst. 

Dafür haben sich die Künstler*innen um Saša Asentić nicht nur in die Archive begeben und mit zahlreichen Zeitzeug*innen gesprochen, sondern auch eine Vielzahl Kollaborateur*innen beteiligt, um viele (unter vielen anderen möglichen) Tanzgeschichten der DDR ins Jetzt zu holen. Eine von ihnen ist die heute noch aktive Tänzerin Fine Kwiatkowski, deren Auftritt den Festsaal der Sophiensæle buchstäblich ins Wanken bringt: Zu einer beeindruckenden Licht/Video-Projektion bewegt sie sich flirrend durch den Raum – als fragmentarischer Körper mit verkrampften Gliedmaßen, als mechanisch rotierende Gestalt, zwischen Aufbruch und Verlorensein – gleichzeitig aus der Zeit gefallen und zeitlos. Virtuelle Welten tun sich auf, wenn der Boden unter ihren Füßen sich in vagen Umrissen zu verlieren droht. Es scheint, als kippten in diesem Moment Vergangenheit und Zukunft ineinander…  

Bemerkenswert ist allerdings auch der Umgang mit den abwesenden Künstler*innen, die hier (zurück) auf die Bühne geholt werden: Marianne Vogelsang, Jean Weidt, Jo Fabian, Arila Siegert… Der Hamburger Puppenkünstler Dennis Seidel besingt am Keyboard und mit Verstärkung von zweidimensionalen Menschenfiguren und dreidimensionalen Taubenpuppen in herzerwärmender Weise Jean Weidts Liebesleben und Hadern mit dem politischen System der DDR, in die er 1945 voller Hoffnung aus dem Exil in Frankreich gezogen war. Rike Fläming und Berit Jentzsch rufen auf humorvolle Weise Jo Fabians „Whiskey and Flags“ und Arila Siegerts „Kentauren“ auf den Plan, indem sie die Stücke über Beschreibungen und Verkörperungen nicht reenacten, sondern mit Mut zur Lücke vorstellbar machen. 

In Arila Siegerts Solo verkörperte die Tänzerin als Vogelgestalt System und Individuum zugleich, kurz: Erich Honecker. Die Flügel werden zu Krücken, zu Schutzschildern, zu nervösen Schnäbeln, die sich jedoch nicht wie bei Dore Hoyer in Liebe treffen: „Der Staat ist ein Betonkopf.“ Zum Zeitpunkt dieses Tanzes konnte Arila Siegert noch nichts vom baldigen Fall des Systems wissen, das zu großen Teilen wohl auch Antrieb ihres künstlerischen Schaffens war. Wie weitermachen? 

Fläming und Jentzsch waren zum Mauerfall 10 Jahre alt. Sie berichten, wie sie in zeitgenössischen Tanzklassen nach der Wende „richtig“ rennen und tanzen gelernt hätten – Fuß abrollen, statt in Spitze strecken, auf den Boden werfen, Gravity statt Grazie, Ausdruck statt Realismus… Sie verfügen über die außergewöhnliche Erfahrung, zwei Systeme – oder genauer: den Übergang von einem System zum anderen – erlebt, und so als spezifisches Körperwissen zu eigen zu haben. Neben den großen, traurigen und herzzerreißenden Geschichten, die an diesem Abend erzählt wurden, sind es auch solche kleinen Spuren und Gesten, die Aufschluss darüber geben können, was hinter der Vorstellung steht, dass Tanz, dass Körperwissen politisch ist, oder: was bleibt.   


Am 9.11.2019 Tischgesellschaft: Publikumsgespräch im Anschluss an die Vorstellung „Tanz in der DDR: Was bleibt?“ in den Sophiensælen, mit Jens Richard Giersdorf als Gast.