Mit “Lost in Formation”, uraufgeführt am 22. November in der fabrik Potsdam, zeigt KOMBINAT anhand von Tanz und Film diverse Erscheinungen der Formationen im gesellschaftlichen Miteinander und das Tragikomische am Kontaktverlust dabei.
Das Auftreten der Videokultur nach den 80er Jahren hat mit ihren Möglichkeiten des Schneidens, Montierens und Neuordnens, die Art des Zeigens für immer verändert; damit auch, was wir von uns zeigen können und möchten. In einer visuellen Kultur der Fragmente und Momentaufnahmen bekommen einzelne Gesten schnell eine symbolische Bedeutung. Umso anfälliger sind dieselben Gesten für Verspottung und wir für Scham, wenn sie der erwarteten Form nicht entsprechen und so als ungeschickt empfunden oder aus dem Kontext gerissen werden.
In “Lost in Formation” von KOMBINAT, dem Künstlerkollektiv der Choreographin Paula E. Paul und des Medienkünstlers Sirko Knüpfer, sehen wir viele solcher aufgeladenen, humorvollen oder peinlichen Momente aus der Weltgeschichte der Formation. Archivaufnahmen von Gebeten, Aufmärschen, Demonstrationen, aber auch Momente des Feierns, Gemeinschaftstanzes oder sportlicher Leistungen. Je größer der Wunsch nach perfekter Form, nach politischer Macht, nach Massenbildung, desto mehr fallen die Einzelfälle der Unordnung, die Unangepasstheit in der Gruppe auf. Der “Fehler” mag an einer ungeschickten Bewegung liegen, an einer unpassenden Kleidungsfarbe oder manchmal an schlechten Wetterumständen, wie im Matsch verschmutzte Hosen der Offiziere zeigen, die trotzdem für Ihre Nation weitermarschieren möchten.
Was Ordnung gibt, formt, zusammenbringt wird in “Lost in Formation” erstmal auf die einzelnen Teile heruntergebrochen. Bevor die Filmaufnahmen Impulse geben, sind David Pallant und Risa Kojima allein auf der Bühne. Zuerst in einem Tanz mit tierischen Gesten der Entdeckung und der Neugier. Aber nicht ganz intstinktiv, denn es gab nie eine Zeit vor der Information. Ihre Bewegungen sind fließend, aber trotz makelloser körperlicher Beherrschung leicht verunsichert, elegant, aber komisch zugleich. Als ob sie nicht wissen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen oder wozu dieses Körpergedächtnis aus Tanz, Kampf, Sport und Arbeit dient, das sie zwanghaft zu neuen Bewegungen auffordert. Immer wieder und immer mehr gibt es Zeichen vom Streben nach Zivilisiertheit, wie das An- und Ausziehen einer Jacke. Sie bewegen sich dabei gemeinsam, aber nicht im Kontakt miteinander, pflegen kaum Augenkontakt. Spätestens nachdem sie ihre Jacken ausziehen und uns ihre Trikots in unterschiedlichen Farben sehen lassen, wissen wir, dass sie nicht zusammengehören.
Der fehlende Kontakt macht sich in weiteren Details bemerkbar, wie zitternden Beinen, dem Kratzen des Gesichts oder körperlichen Äußerungen der Langeweile in einer Warteschlange. Das sind auch Momente des Lebens, in denen wir uns mehr ähneln oder versuchen, uns anzugleichen. Auch in den Gruppenchoreografien, die für das Stück gedreht wurden, herrscht ein Versuch des zivilisierten Nebeneinanders, bei dem niemand trotz freien Willens frei erscheint. Aus der Gruppendynamik wird Gruppenzwang und die Zuschauer*innen sind auch nicht frei davon. Die klatschenden Hände, die irgendwann auf der Bildfläche erscheinen, werden zuerst als ein weiteres Element der Alltagschoreografie wahrgenommen. Nachdem das Klatschen immer lauter und heftiger wird und Pallant und Kojima neben der Leinwand stehen, fühlen sich viele im Publikum aufgefordert zum Klatschen und sind verunsichert, ob das Stück zu Ende ist.
Ein direktes Interagieren zwischen den Bildern und Tänzer*innen findet nicht immer statt. Sie sind nicht unbedingt eine räumliche Erweiterung voneinander. Auch die Formationen entstehen nicht, indem wir nur nachmachen, was wir sehen. Wir wiederholen, probieren aus und variieren, bis wir uns eine neue Bewegung aneignen, sie alltagstauglich machen. Irgendwann vergessen wir ihren Ursprung oder sie hat keine Funktion mehr, wird zu einem Reflex. So wie einer der wenigen Momente des Gegenüberstehens zwischen Pallant und Kojima, der am Ende in einem sinnlosen Händeschütteln mündet. Eine Geste, die ohne eine individuelle oder gemeinsame Sinngebung, nicht nur absurd, sondern zwanghaft wirkt.
Als zentrales Motiv des zwanghaften Auffangens von perfekten Momenten kehrt der Selfie-Stick immer wieder zurück. Er macht es möglich, trotz der Einsamkeit gesehen zu werden, allein, aber in der Masse zu bleiben, verhindert aber in einer Pseudo-Unabhängigkeit die Berührungen. Auch in der Abwesenheit der Kameras machen die Klick-Geräusche die natürlichen Bewegungen irgendwann zu Posen. Auch wenn es keine Vorgaben mehr gibt, lebt das absorbierte Wissen im Körper weiter und formt die Identität. Diese Dimension ist die aussagestärkste vom Stück, beantwortet aber die Frage nicht, warum die Tänzer*innen keinen bewussten Schritt aus der Formation wagen, keinen Widerstand zeigen, immer mitmachen. Und wenn sie das doch versucht haben, heißt das, dass eine Befreiung unmöglich ist? Trotz ihrer offenen und energischen Ausstrahlung, trotz des Humors in der Luft, wirken sie bis auf kurze Momente des Lächelns eher affektlos. Nach einer so lebendigen und kontrastreichen Auseinandersetzung nicht zu wissen, wie die Alternative zur Mitwirkung im Kollektiv aussehen würde, hinterlässt ein leichtes Gefühl der Passivität, wie bei der ersten eigenen Erfahrung einer Alltagsformation im Foyer des Theaters oder in der Bahn, eine Gefangenheit, wenngleich freiwillig.