„Un truc d’ouf“, La Fleur ©Monika Gintersdorfer

Bindestrich-Identitäten

Mit dem „Afrotrap-Tanzworkshop“ und der Performance „Un truc d’ouf“, die im Ballhaus Ost stattfanden, stellt das Performancekollektiv La Fleur Fragen über die gemischten Identitäten von Europäer*innen afrikanischer Abstammung. 

La Fleur ist ein Kollektiv aus „Tänzer*innen urbaner Stile, DJs, Schauspieler*innen und Showbizstars“ und wurde gegen Ende 2016 von Monika Gintersdorfer und Franck Edmond Yao gegründet. Obwohl die meisten der Performer*innen in Paris leben, haben alle von ihnen afrikanische Wurzeln – manche sind die Kinder von Immigrant*innen, während andere Migrant*innen aus Afrika in der ersten Generation sind, hauptsächlich von der Côte d’Ivoire. Unter den weitreichenden Einflüssen aus Afro-Tanz und -Musik liegt der Schwerpunkt des Kollektivs auf dem Coupé-Décalé. Dieses populäre ivorische Musikgenre entstand 2002 durch eine Gruppe ivorischer DJs in Paris, und ist eine Verschmelzung afrikanischer und elektronischer Musik- und Tanzstile. Seit seinem Aufkommen entwickelte und verbreitete sich der Coupé-Décalé nicht nur überall im frankophonen Afrika, sondern auch innerhalb Europas sowie andernorts. Der folgende Text ist eine Kontemplation über meine erste Begegnung mit dieser Bewegung, die aus einem einstündigen Gespräch mit Gintersdorfer, meiner Teilnahme an einem zweieinhalbstündigen Afro-Tanz-Workshop, der von drei Mitgliedern La Fleurs geleitet wurde, und der zweistündigen Performance „Un truc d’ouf“ bestand.

Zunächst würde ich gerne die politische Dimension des Verschmelzens zwischen den afrikanischen und europäischen Einflüssen des Coupé-Décalé kontextualisieren, sowie die wilde Popularität, die er in den letzten Jahren überall in Europa erlangt hat. Wie Gintersdorfer in dem Workshop sagte, obwohl kongolesische Musik für eine lange Zeit zum Herzen der afrikanischen Musikszene gehörte – und so viele berühmte kongolesische Musiker*innen in den wichtigsten europäischen Städten auftraten, wie Brüssel oder Paris – zeigten die europäischen Zuhörerschaften an dieser wenig Interesse. „Nur die Afrikaner*innen, die dort lebten, gingen zu den Konzerten“, sagte Gintersdorfer. Im Gegensatz dazu erlangte die Afrotrap-Musik mit dem Moment ihrer Entstehung in 2016 sofortige und anhaltende Beliebtheit überall in Europa. Laut dem berühmten Musiker MHD, dem ‚Prinzen des Afrotrap‘, hat der musikalische Stil seine Wurzeln im Coupé-Décalé. MHD ist senegalesisch-guinesisch-französisch und seine Musik repräsentiert unzählige in Europa lebende Immigrant*innen afrikanischer Abstammung in erster und zweiter Generation. Viele sind mit finanziellen und sozialen Schwierigkeiten konfrontiert, damit, in niedrigentlohnten Jobs zu arbeiten, sowie täglichem Rassismus. Zahlreiche junge Menschen aus diesen Communities, die sogenannte „Bindestrich-Identitäten“ haben – sie sind nicht einfach „französisch“, sondern „ivorisch-französisch“, „kongolesisch-französisch“, und so weiter – suchen diesen Kämpfen in ihrem jeweiligen Lebensalltag zu entfliehen, indem sie Berühmtheit durch Musik und Tanz erlangen. MHDs Musik hat nicht nur Sichtbarkeit für diese Leben geschaffen, sondern diese auch gefeiert. 

Auf der Bühne, während „Un truc d’ouf“, beschreibt Yao diese junge Generation mit „Bindestrich-Identitäten“, die durch Musik und Tanz zu Erfolg kommen, als „Den hübschen Jungen“. An einer Stelle in seinem Solo erzählt er uns, dass wenn Nationalisten „diese schwarzen Leute, die zu Ruhm kommen, eine Menge Geld verdienen und in teuren Autos herumfahren“ sehen, „bekommen sie fast einen Herzinfarkt“. Als er aggressiv über Zuschauer*innen klettert, in ihren privaten Raum eindringt, fährt er fort, dass diese „hübschen Jungen“ die Söhne und Töchter der Nationalisten kennenlernen, und zu ihren Freunden und Lovern werden. „Dies ist wahres Mischen“, sagt er. 

In einem anderen Solo spricht Pheno Ambro über ein Interview mit MHD, in dem der Musiker erklärt, dass Afrotrap keine Mischung zweier musikalischer Genres, Afro und Trap, ist, sondern, was wichtiger ist, eine Mélange zweier Publikumsarten. Kaum hat er uns davon erzählt, laufen alle zehn Performer*innen in den Sitzbereich, um sich zu uns zu gesellen, verteilen sich in dem vornehmlich weißen Publikum. „In jedem einzelnen der MHD-Konzerte“, sagt Pheno Ambro, „gibt es immer zwei Typen Leute, die kommen – genau wie hier heute. Und das ist wunderschön zu sehen.“ In diesem Moment verändert sich etwas. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass die Workshop-Teilnehmer*innen hauptsächlich weiß waren, und dass das Performance-Publikum fast ausschließlich genauso ist. Dieses Bewusstsein weckt in mir ein leichtes Unwohlsein, unfreiwillig in der Dynamik weißer Zuschauender, die „exotische Andere“ beobachten, gefangen zu sein. Als die Performer*innen bei uns sitzen und ein diverseres Publikum schaffen, spüre ich die Kluft kleiner werden.

Trotz dieses generellen Unbehagens finde ich es extrem angenehm, die Performer*innen so elegant und energetisch zu der Musik tanzen zu sehen. An einer Stelle, während Yao tanzt, erzählt er uns, dass ein Journalist einst sagte, dass das Tanzen schwarzer Menschen ein Klischee sei, auch wenn sie so wunderschön tanzen. Yao stellt die Frage, ob ihr Beruf als ein Klischee gesehen werden könne. Er sagt, er werde so oder so weiter tanzen und jemand aus dem Publikum ruft flehentlich: „Bitte!“. Drückendes Unbehagen, bedingt durch das Überlappen in meinen Gedanken mit anderen Situationen, in denen weiße Zuschauerschaften das Performen „schwarzer Entertainer“ genossen haben, lässt mich auf meinem Stuhl hin- und herrutschen.

„Un truc d’ouf“, La Fleur ©Monika Gintersdorfer

Diese bittere Empfindung von Voyeurismus verstärkt sich, als Annick Choco eine elementare Bewegung des kongolesischen Tanzes zeigt – ein Nierenkreisen – und alle anderen Performer*innen diese Bewegung gemeinsam mit ihr demonstrieren. Ich vernehme ein verunsichertes Kichern aus dem Publikum. Der Grund dafür ist, so nehme ich an, die Tatsache, dass das Nierenkreisen sehr sexualisiert für weiße Zuschauer aussehen kann. Wir sehen zu, während die zehn Performer*innen ihren Beckenbereich in einer Endlosschleife rotieren, die Beine sind geöffnet und die Knie gebeugt. Annick Choco erklärt, dass jedes kongolesische Kind diese Bewegung lernt. „Dies ist Teil der kongolesischen Identität“, sagt sie, „Sie können es auch lernen, aber es ist nicht leicht.“ Ich erinnere mich an einen Moment aus dem Workshop, als Yao uns aufklärte, dass es unsere Nieren seien, die rotieren, während er sanft seine Beckengegend kreisen ließ. Ich sah einige rollende Augen, und später sagte eine Frau: „Äh … Entschuldigung? Sie singen zu den Nieren?“ Als wir versuchten ihn zu imitieren, fühlte sich diese Bewegung sehr speziell und nahezu unmöglich an. Ich spüre eine seltsame Anspannung im Raum, während wir die Performer*innen dabei beobachten, wie sie ihre Beckengegend mit geschmeidiger Finesse kreisen lassen, und mir geht durch den Kopf, sogar obwohl dies eine absolut natürliche Bewegung für kongolesische Menschen ist, ob es sein könnte, dass weiße Menschen sie häufig sexualisieren, einfach aus dem Grund, weil sie „ungewohnt“ für sie ist? Ich denke darüber nach, worin genau die Natur der „Ungewohntheit“ liegt, und warum es dem Publikum solch ein Unbehagen bereitet, und denke an Lillian Fadermans erkenntnisreiche Analyse in ihrem Buch Odd Girls and Twilight Lovers. A History of Lesbian Life in Twentieth-Century America. Sie erklärt das Phänomen in den frühen 1920er Jahren in NYC lebender weißer Homosexueller, die sich auf den Weg nach Harlem machten, um ihre Sexualität zu erkunden:

Harlem hatte eine besondere Anziehung auf Weiße, die sich rebellischer Sexualität hingeben wollten. Möglicherweise gab es einen gewissen Rassismus in ihrer Bereitschaft, Harlem als eine für alle offene Party zu denken, oder, wie Colliers Magazine in den 1920ern sagte, als „ein Synonym für Unanständigkeit“. Die weiße Faszination für Harlem hatte offensichtlich einen Beigeschmack „sexuellen Kolonialismus“, das heißt, viele Weiße benutzten Harlem als eine Community, einen sexuellen Stimulans. Und Harlem schien selbst, wie viele kolonisierte Länder, weil sie aus ökonomischen Gründen Tourismus fördern mussten, diese Partyatmosphäre zu begrüßen. . . . Mutiger geworden durch geschmuggelte Spirituosen, Jazz, und das, was sie als den primitiven Reiz Afrikas ansahen, agierten sie ihre Bezauberung durch das Ursprüngliche und Erotische aus. Sie waren fasziniert von vermeintlicher schwarzer Natürlichkeit und Exotismus, und sie fühlten auf romantische Weise, dass jene, die sie als die „untere Klasse“ ansahen, ihnen etwas über sexuellen Ausdruck beizubringen hätten, was ihr Mittelklassen-Milieu von ihnen ferngehalten hatte. Sie glaubten, Harlem gebe ihnen die Erlaubnis – oder sie nahmen sich dort die Erlaubnis – zu erkunden, was in der weißen Welt verboten war.

Also, ich frage mich, was ist hier der weißen Welt verboten? Ich erinnere mich daran, was Gintersdorfer während des Workshops über „manche europäische Männer“ sagte, und wie sie sich weigern, ihre Becken zu bewegen, weil sie es obszön und unmännlich finden. „Auf derartige Gedanken würden kongolesische Männer niemals kommen!“ rief sie aus. Mir schien es zu dem Zeitpunkt deutlich zu sein, dass diejenigen, die in ein weißes kulturelles Milieu getaucht sind, Gesten, die ihnen weiblich erscheinen, negative Konnotationen zuschreiben, wie beispielsweise dem Bewegen des Beckens. Solch eine Bewegung auszuführen bedeutet, insbesondere für sich männlich identifizierende Menschen in der weißen Welt, eine peinliche Schwäche, die dann ihre Machtposition bedroht. In der Konsequenz setzt das Bezeugen dieser Bewegung, ausgeführt von anderen sich männlich gebenden Körpern, den „Anderen“ nicht nur „herunter“ (im Sinne der passiven sexuellen Rolle) sondern auch als „erotisch“. Fähig zu sein, dieses Tabu als weiße Person zu brechen, wie in Fadermans Text beschrieben, wurde somit als ein Akt der Rebellion angesehen. Dies sieht für mich aus wie lediglich eine weitere Konsequenz der Ausbreitung der Normalisierung im Bereich weißer kultureller Standards und des darauf folgenden stereotypischen Exotismus „Des*Der Anderen“. Als asiatische Frau, die in Deutschland lebt, denke ich daran, wie oft Leute, die mich kaum kennen, auf mich zukommen und mir erzählen: „Ich weiß, du bist höflich und ruhig“, womit sie eine verbreitete Stereotypisierung ‚Des Östlichen‘ auf mich projizieren.

Im nächsten Teil der Performance wirft es mich unmittelbar in einen Zustand der Verwirrung, als ich den Performer*innen dabei zusehe, wie sie nacheinander versuchen, „etwas zu tun, das sie nie zuvor gelernt haben“. Aufgrund des Gesprächs mit Gintersdorfer verstehe ich diesen Part als eine Art des Zeigens von Offenheit dem Akzeptieren und Fusionieren einer großen Vielfalt von Bewegungsstilen gegenüber. Dadurch dass die Performer*innen Dinge probieren, die sie nie zuvor getan haben, erklärte sie, versuchen sie „eine neue Mischung“ zu finden. Wie dem auch sei, als ich ihre Entscheidungen miterlebe, fühle ich mich unglaublich unbehaglich. Aus den fünf Solos wollen zwei Performende Butoh und Kabuki imitieren, während sich ein anderer entscheidet, die beiden zu mischen. Sie geifern, ziehen komische Gesichter, bewegen sich in seltsam verzerrter und eingeschränkter Weise. Ihre Darstellung sieht aus wie eine oberflächliche Nachahmung und es ist schwierig irgendetwas anderes zu sehen als einen Exotismus ‚Des Orientalischen‘. Als die Zuschauer*innen klatschen und lachen, während sie zuschauen, frage ich mich, ob ich die einzige bin, weil ich die einzige asiatische Person im Raum bin, die sich unbehaglich fühlt. Erinnerungen an meine persönlichen Kämpfe mit Diskriminierung in den letzten vergangenen Jahren stürzen auf mich ein. Ein hoher Prozentteil rassistischer Bemerkungen, die ich in öffentlichen Räumen erhalte, kommt von Leuten, die selbst Minderheiten sind. Ich frage: Leiten sich diese Handlungen von einem elementaren menschlichen Bedürfnis ab, Macht zu spüren? Kommt es von einem Verlangen, andere Minderheiten zu unterdrücken, die „unter“ ihnen sind? Befindet sich eine junge, asiatische Frau am unteren Ende einer Hierarchie von Minderheiten, weil sie „höflich und ruhig“ ist, und somit harmlos und machtlos? Oder ist dies, vielleicht, lediglich eine Art, den eigenen Fetischismus für andere Minderheiten, die für sie ‚exotisch‘ sind, auszudrücken? Außerdem vergegenwärtige ich das Gefühl des Schwebens in einer nebligen Zwischen-Zone, weder schwarz noch weiß, wenn im westlichen akademischen Setting der Identitätsbegriff als einer klaren Trennlinie folgend diskutiert wird.

Als ich Gintersdorfer nach der Intention des Stückes frage, antwortet sie, sie möchte dem Publikum ein positives Beispiel des Mischens von Identitäten geben. „In der Musik ist das Mixen von Identitäten leicht und schön“, sagt sie. „Aber im wahren Leben, wenn man aus Kongo ist und auch französisch, ist es sehr viel schwieriger, weil es so viele Hindernisse mehr gibt, mehr Grenzen zu überwinden, und viel mehr Formulare auszufüllen. Sie hofft, dass dieses Beispiel „auf wunderschöne Weise gemixter Identitäten“ auf der Bühne einen ähnlichen Prozess im wahren Leben fördern kann. Aufgrund meiner kurzen Interaktion mit La Fleur denke ich, dass die Gruppe tatsächlich in Europa lebende Menschen afrikanischen Ursprungs stärkt und Diversität fördert – insbesondere durch die Präsenz der großen Medien – und ich sehe dies als einen positiven Schritt. Mein persönlicher Wunsch ist dennoch, dass, da die Globalisierung immer zügiger in die Zukunft hinein beschleunigt, diese Unterteilungen und Mauern, die immer noch fest da stehen, auch vernichtet werden können, um ohne Rückgriff auf Stereotypen, Etiketten und Kategorisierungen eine gesündere Dazugehörigkeit aller Menschen zu schaffen.


Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski