„CLOUDS ON CLEAR SKY“, Johanna Ackva & Akemi Nagao ©Uta Neumann

Das Rauschen der unsichtbaren Hyperpräsenz

Die Choreografin Johanna Ackva stellte vom 6. bis 9. Oktober 2022 im interdisziplinären Produktionsort Vierte Welt am Kottbusser Tor die Wiederaufnahme von „CLOUDS ON CLEAR SKY“ vor, das Ergebnis einer langjährigen Auseinandersetzung mit Tod und Sterben. Der vierte und letzte Teil der Soli-Reihe ist in Zusammenarbeit mit der Tänzerin Akemi Nagao entstanden.

Ausgelöst durch einen potentiell lebensbedrohlichen Unfall, bei dem sie durch Glück nur mit leichten Verletzungen davonkam, beschäftigt sich Johanna Ackva seit vielen Jahren mit Tod, Trauern und Endlichkeit. Teil dieser Auseinandersetzung waren Gespräche mit Menschen, die ihr Leben dem Tod gewidmet haben, wie etwa eine Trauerrednerin, eine Sterbebegleiterin oder ein Friedhofsgärtner. Aus dieser Forschung gingen bereits mehrere künstlerische Projekte hervor. Das jüngste ist die Reihe „CLOUDS ON CLEAR SKY“, welche 2021 im Rahmen einer Residenz in der Vierten Welt entstand. Im Dialog mit emeka ene, Regina Baumgart, Jan Burkhardt und Akemi Nagao erarbeitete die Choreografin vier Soli, in denen die Tänzer*innen über ihre jeweilige somatische Praxis eigene Zugänge zu den Themen entwickelten.

Der Abend beginnt mit einem Übergang: Der kurze Weg von der Bar in den Theaterraum der Vierten Welt streift noch einmal die Immanenz des Nachtlebens des Kotti, bevor für die nächsten 45 Minuten alle weltlichen Bezüge unscharf werden. Der Ort wirkt, gemessen an den gewohnten Sichtbarkeitsverhältnissen zwischen Publikum und Performenden, zunächst herausfordernd: Durch vier breite, mittig im Raum platzierte Säulen ist es von keinem der ringsherum verteilten Hocker möglich, das gesamte Geschehen zu überblicken. Eine der Säulen ruht auf einem schwarzen, kreisförmigen Fundament, das wie eine Miniaturbühne das leicht verschobene Zentrum des Raumes bildet. Abgesehen von zwei vor schwarzem Tuch hängenden Blumensträußen gegenüber dem Eingang ist die Szenographie (Raumdesign/Kostüme: Bettina Mileta) von asymmetrischen, bruchstückhaften Formen und Anordnungen charakterisiert. Zwei Kameras (Video: Max Hilsamer) erfassen kleine Ausschnitte des Raumes, die im Laufe der Aufführung stichpunktartig auf fragmentierte Leinwände projiziert werden. Der Wunsch nach einem vollständigen Bild wird bis zum Schluss unerfüllt bleiben.

Die in Gold und Blau gekleidete Akemi Nagao beginnt die Aufführung sitzend im Publikum, wodurch sie nicht sofort als Protagonistin des Abends auszumachen ist. Nach einer Weile erhebt sie sich und beginnt, mit meditativ-langsamen Bewegungen jeden Winkel des Raumes abzulaufen. Dabei scheint sie allen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten dieselbe, gleichschwebende Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, die nur von einem gelegentlichen sanften Lächeln unterbrochen wird. Ihre akribischen Mikro-Bewegungen deuten auf eine Kartographierung des Raumes hin, die mehr Dimensionen erfasst, als mir unmittelbar zugänglich sind. Über ihre Finger, ihre Zehen und ihren immer wieder halb geöffneten Mund scheint Nagaos Körper zu einer multisensorischen Antenne für eine Topographie des Unsichtbaren zu werden, von deren Umrissen ich auch am Ende der Aufführung nur eine leise Ahnung bekommen habe. Dann ertönen plötzlich Sound-Fragmente (Musik: Evelyn Saylor), die in diesem Zusammenhang an das akustische Ausschlagen eines Seismographen denken lassen. Anfangs erinnern die Geräusche an ein Pfeifen, das sich in Richtung einer wohltönenden Melodie entwickelt, nur um sich kurz vor dem Erreichen der Harmonie doch noch in Sprachfetzen aufzulösen. Seltsamerweise geben die zunächst abstrakt wirkenden Klänge mit der Zeit ein immer konkreteres Gefühl von der Sphäre, zu der Nagao sich vorzutasten scheint. Dann kommt mir der vielleicht einzige klare Gedanke während der Aufführung, der sich dann auch gleich wieder in den unkenntlichen Lautsprecher-Geräuschen auflöst: Die Analogie zwischen Klang, den die Musikerin Mieko Suzuki im Rahmen des Projekts „Unacknowledged Loss“ als unsichtbare Energie mit großer Wirkung beschrieb, und Tod als ein ungreifbares Phänomen, das uns in seiner allgegenwärtigen Wirkmächtigkeit meist nur als unverständliches Rauschen präsent ist —

Während sich das Stück akustisch der Konkretion verweigert, widersetzt sich Akemi Nagao der Abwesenheit. „CLOUDS ON CLEAR SKY“ lotet, wie der Titel bereits impliziert, die verschiedenen Facetten des (Un-)Sichtbaren aus. Durch die spezielle Architektur des Raumes nehme ich Nagao oft nur fragmentiert oder vermittelt wahr: Ich sehe sie abwechselnd als Schatten an der Wand, von oben aufgenommen auf die große Leinwand hinter mir projiziert, in den Spiegelungen der Fenster, als zur Gegenwart asynchrone Video-Aufnahme aus der Vergangenheit, oder sogar in den Augen der anderen Zuschauenden. Und selbst in den kurzen Momenten, in denen ich sie nirgends erblicken kann, müsste ich schon Augen und Ohren verschließen, um ihre Hyperpräsenz zum Verschwinden zu bringen.

In der letzten Szene setzt Nagao zum Zeichnen an — doch bevor sie richtig begonnen hat, hört sie auch schon wieder auf und setzt sich zurück ins Publikum. Damit endet die Performance, und zurück bleibt neben vielen unfertigen Emotionen und Gedanken eine weiße Kreide-Skizze auf schwarzem Grund, die in ihrer abstrakten Form merkwürdig vertraut erscheint.

Foto: „CLOUDS ON CLEAR SKY“, Johanna Ackva & Akemi Nagao ©Uta Neumann


„CLOUDS ON CLEAR SKY“ ist eine Reihe von Performances und Veranstaltungen rund um Endlichkeit, Tod und Trauer der Choreografin Johanna Ackva. Das Solo mit Akemi Nagao war am 9. Oktober 2022 in der Vierten Welt in Berlin-Kreuzberg zu sehen.