„Labyrith“, Ricardo de Paula / Grupo Oito ©Tito Casal

Atempause im Irrgarten

Auf der Suche nach Auswegen aus einem dichten und individuellen Netz der Diskriminierung feierte die Tanzperformance „Labyrinth“ von Choreograf Ricardo de Paula und Tänzer*innen der Grupo Oito am 14. Oktober 2022 im HAU2 Premiere.

Mit der Anweisung, dass überall Platz genommen werden und man diesen auch immer wieder ändern kann, trete ich durch Popcorngirlanden in die ausverkaufte Premiere im HAU2 ein. Das Erste, was mir ins Auge fällt, sind weitere, von der Decke hängende Vorhänge aus unterschiedlichen Materialien: zusammengeflickte Stofffetzen, hohle Körperteile aus Gips, Spiegeltafeln, ein Netz aus rotem Seil (Bühne: Sarah Seini). Diese schwebenden Elemente unterteilen den Saal in kleinere Bühnen, auf denen die sechs Performer*innen der Grupo Oito verteilt liegen. Laura Alonso, Caroline Alves, Ruben Nsue, Cintia Rangel, Natalie Riedelsheimer und Miro Wallner sind getrennt voneinander, jede*r auf einem individuellen Fundament platziert, mit unterschiedlichen Barrieren und Begrenzungen. Da einige Untergründe aus Spiegelfolie bestehen, kommt mir das Silbertablett in den Sinn. Was oder wem sind sie ausgeliefert?

Über die Lautsprecher ist ein lautes Flüstern zu hören, was sich schnell mit Geräuschen der im Raum verteilten Tänzer*innen mischt: „Schau mich nicht an!” – “don’t touch me” – “Verboten, das ist Verboten!”. Die Äußerungen kommen aus unterschiedlichen Richtungen des Saales. Dies, kombiniert mit dem Klirren von Glasflaschen aus einer Ecke, und einer fiesen Lache aus der anderen, führt zu einem Gefühl von Desorientierung. Mein Blick schweift von einem Fleck zum anderen; die Gesamtheit des Geschehens ist nicht einsehbar.

Entweder verhüllt mit Stoffen (Kostüm: Michelle Ferreira) oder in sich gekrümmt in den eigenen Gliedmaßen versteckt, verdecken zu Beginn alle Tänzer*innen ihr Gesicht. Bewegungen, die zunächst an langsames sich Winden vor Scham erinnern, verschärfen sich vereinzelt zu zitterndem Beben. Das in sich gekehrte Vergraben wandelt sich mehr und mehr in offensive Wut, in den Drang, Dinge kaputt zu hauen, gegen Begrenzungen zu schlagen, auszubrechen, den eigenen Körper wieder und wieder fallen zu lassen. Die Tänzer*innen, deren Gesichter allmählich ans Licht kommen, wiederholen individuelle Motive. Es wird deutlich, dass sie alle mit Unterschiedlichem zu kämpfen haben, kein Ausdruck derselbe, keine Erfahrung gleicht sich.

„Labyrinth“ vermittelt tänzerisch das Gefühl, in eine Sackgasse zu geraten. Die Eigenschaften des Irrgartens sehen für jede Person anders aus, ebenso wie die Performance aus jedem Blickwinkel anders betrachtet wird. Diskriminierung und Gewalt, deren Auswirkungen verhandelt werden, wird nicht reproduziert. Der Fokus liegt auf den Individuen, auf der steigenden Wut und auf der Suche nach einem Ausweg aus den engen Gängen des Labyrinths.

Das Stück schafft es, den Raum so emotional aufzuladen, dass der Eintritt in eine spirituelle Naturwelt spürbar entkrampft – gelbes Scheinwerferlicht reflektiert in den Spiegeln und fällt wie Sonnenstrahlen auf meine Nase (Licht: Raquel Rosildete). Die Tänzer*innen begegnen sich zum ersten Mal als Gruppe in der Mitte des Saals. Die Individualität, ausgedrückt durch die wiederkehrenden Motive, geht nicht verloren. Wahrnehmbar wird jedoch eine geerdete Kraft und ein Genuss, der sich ausbreitet. In einem Ritual gegenseitiger Unterstützung tanzen die sechs Performer*innen miteinander und füreinander.

Die verstreute Vielfalt, die mich in der ersten Hälfte des 80-minütigen Tanzstücks desorientiert aber gespannt auf die inselartigen Stationen blicken lässt, bündelt sich im zweiten Teil im Zentrum des Raums. Der energetisierende Rhythmus, der einige Zuschauer*innen sichtlich ansteckt, täuscht keine Zerstörung des Labyrinths vor. Spürbar wird dennoch eine Stärkung, als würde man auf der Reise durch den Irrgarten zur Stärkung eine kurze Pause einlegen.


„Labyrinth“ von Ricardo de Paula / Grupo Oito ist vom 14.-16. Oktober 2022 im HAU Hebbel am Ufer (HAU2) zu sehen.