„Melancholía“, Josep Caballero García / Queerpraxis ©Simone Scardovelli

Das Goldene Wesen

In „Melancholía“, einer Koproduktion des HAU Hebbel am Ufer, schaffen Josep Caballero García / Queerpraxis eine sinnliche Welt des Spiels, in der Gender- und ethnische Identitäten sich der Eindeutigkeit entziehen.

Berlin gibt sich malerisch. Herbstluft und goldene Blätter. „Wie wunderschön …“ denke ich, während ich so flaniere. Das strahlende Gold in den Straßen lässt mich an mein persönliches Goldenes Wohlfühl-Wesen denken: Einmal kleidete ich im Rahmen einer Performance einen Freund in einen Ganzkörperbody, der sogar sein Gesicht bedeckte. Wann immer ich mich überfordert fühle, oder es mir schwer fällt, der Welt entgegenzutreten, stelle ich mir vor, die mich umgebenden Personen seien je alle in so ein gesichtsloses Goldenes Wesen transformiert, und dann fühle ich mich besser. Ich durchstreife eine gutartige Welt queerer Wesen. Auch in Josep Caballero Garcías „Melancholía“ traf ich auf die Goldenen Wesen.

‚Josep Caballero Garcías erste choreografische Oper „Melancholía“ ist ein Plädoyer für die Aufhebung von Identitätskategorien‘ – heißt es ganz oben im Programmheft. Ich komme im Theater an, wo die Interaktion der Körper, Klänge und Wörter sich bereits entwickelt. Ich bemerke einen riesigen silbernen Ballon, der im linken hinteren Teil der Bühne schwebt. Mein erster Eindruck ist eine gewagte Gegenüberstellung einer formellen und höflichen Atmosphäre lächelnder Performer*innen, die dezente ballettartige Bewegungen und höfische Tänze ausführen, und eines geradeheraus schießenden Textes („Pisse, Scheiße, komm, sei meine Wand, meine Peitsche … töte, was würdest Du tun für ein Ja, ein Zittern, für Blut“) laut gelesen von Black Cracker. Mit Ende des Vorlesens verwandelt sich die Szene langsam in eine nicht klar zu trennende Welt aus Gewalt und Erotik, in der die Performer*innen derbe miteinander ringen. Begleitet von sporadischem Gesang Hubert Wilds. Seine wollüstige, hohe Stimme, die an einen Kastraten erinnert. Die übergreifenden Körper – berühren, greifen, ziehen, schieben, wilde aktive Energie, Stimmen außer Atem. Ist dies eine praktische Übung oder erotisches Vergnügen? Das Stück schreitet voran und ein Raum der Unschärfe, in dem alles möglich sein könnte, klafft auf. 

Nacheinander setzen sich die Performer*innen lange Perücken auf. Offenes Haar fällt vor ihren Gesichtern herab und verdeckt die Sicht. Sie tragen alle Denim-Jeans und einfache T-Shirts. In dieser neuen Welt sind Gender und Ethnizität der Performer*innen verhangen. Während sie sich langsam durch Formen und Stille hindurch bewegen, verwandeln sie sich in mysteriöse sexuelle Wesen in einer unheimlich anmutenden Welt.

Dann erobert der Ballon die Bühnenmitte. Er ist hell angestrahlt und seine Farbe transformiert sich von Silber zu strahlendem Gold. Seine Bewegungslinien beschreiben graziöse Wellen zu und mit Black Crackers Text. Er erzählt uns von „einer haarlosen Silikon-Sexpuppe namens Pompey, deren Körper ohne spezifische Genitalien gefertigt ist, nur mit einer Anzahl von Löchern und Erhebungen, die braune Farbe zu keiner spezifischen ethnischen Abstammung zuordenbar.“ Der Ballon wird zu Pompey, der goldenen Puppe. Dem sich ständig wandelnden Fetischobjekt, das alles zulässt. Soziale Konventionen sind nicht existent. Alles ist ein Spiel.

Die Szene wendet sich und alle Performer*innen haben ihre Perücken abgelegt – Normalmodus. Lea Martini hockt auf allen Vieren in der Mitte der Bühne, während die anderen Performer*innen um sie herum stehen und auf sie schauen. Alle beginnen der Reihe nach ihre Hände emotionslos in Martinis Hosen zu drücken, als würden sie ein Objekt ausprobieren. Als das Geheimnis gelüftet ist, dass sie einen sexy strahlendgoldenen Ganzkörperbody unter ihrer Kleidung trägt, dessen Farbe der des strahlenden Ballons gleicht, wird Pompey wieder lebendig. Nach und nach wird die Handlung eine kollektive, in der alle im Ringkampf ineinander verschlungen sind. Alle tragen sie einen golden Ganzkörperbody drunter. 

Die einzelnen Ebenen – die bloßen, goldenen Körper der Begierde, die gesichtslosen Wesen hinter den Perücken, die ‚normalen‘ Leute – wirbeln chaotisch durcheinander. Wild singt mit anmutiger femininer Stimme, ohne Kostüm. Er setzt eine Perücke auf und sein Gesicht verschwindet, als er überraschend und meisterlich seine Stimme in einen starken, tiefen maskulinen Ton ändert. Black Cracker, der einen dekadenten Kopfschmuck mit Federn trägt und von Zeit zu Zeit seinen Körper zu den Gesängen bewegt, schließt sich Wild an. Beide drehen sie ihre Rücken zum Publikum. Wild wechselt ständig die Perücken. Es sieht aus, als wäre es austauschbar, wer von beiden eigentlich singt. Diese Unbestimmtheit wird noch stärker, als sie dem Publikum wieder zugewandt sind und alle Performer*innen sie mit synchronen Lippenbewegungen begleiten. In diesen Momenten könnte jede*r von ihnen der*die Singende sein. Jede*r könnte die Diva sein. Der begehrte Körper. Der*die Eine. Nach und nach wird das Singen leiser und leiser und alle bewegen lediglich dramatisch ihre Münder und Gesichtsmuskeln in Stille. Was passiert hier? Das Chaos verstärkt sich, als Alexandra Holtsch sich ihres T-Shirts entledigt, um ihren goldenen Ganzkörperbody darunter zu präsentieren, und ein Duett mit Wild singt. Ihre ‚normale‘ Stimme ist ein Schock, nachdem während der ganzen Performance nur Wilds opernhafter Gesang zu hören gewesen ist. Holtsch dagegen wirkt so pur und verletzlich. Das Duett ist auf ungewöhnliche Weise atemberaubend und die Identitäten kippen wirklich. Was ist erlaubt und was ist nicht erlaubt? Dieser radikale Bruch ist befreiend, aber auch unbehaglich. 

Ich kontempliere über die Wurzel dieser meiner Unbehaglichkeit und denke schließlich über die Definition von Identität nach. In den Performancewissenschaften wird Identität häufig im Kontext von Gender und Ethnizität diskutiert. Diesen Gedanken finde ich anstrengend, weil für mich Identität nämlich ein persönliches und geradezu intimes Gefühl von Individualität ist. In „Melancholía“ werden Identitäten derart fallen gelassen, dass sie objektifiziert werden als neutraler Ort des Begehrens. Ein*e gesichtslose*r Pompey. „Eine weiße Seite, auf die jede sexuelle Rolle projiziert werden kann.“ Lust dieser Art kann sich so unpersönlich anfühlen, wie eine beliebige Großstadtliebe, die mit rohem Begehren in nebulösen Momenten brennt, aber später keine Spuren hinterlässt. Die Performance berührt sexy – doch kalt. 

Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski