„Wismut – A Nuclear Choir“, Jule Flierl und Mars Dietz © Gerhard Ludwig

Bergbewusstseinsentwicklungsarbeit

Jule Flierl und Mars Dietz machen sich in Sachsen auf die Spuren des DDR-Uranabbaus.

Es tropft, rieselt, läuft, gurgelt ein klein wenig. Die aus einzelnen Quellen im Raum gesteuerte Tonkulisse schafft gleich zu Anfang von Jule Flierls und Mars Dietz’ „Wismut – A Nuclear Choir“ eine konkrete Atmosphäre: Wir befinden uns im Innern eines Bergs, es ist feucht, eine Feuchte, die man direkt in den Gliedern spürt, die Dunkelheit und Enge assoziieren lässt. Dagegen ist die Raumtemperatur in den Berliner Sophiensælen eigentlich eher auf T-Shirt-Level eingestellt, die Anordnung der Podestlandschaft, die an die Terrassierung des Bergbaus erinnert, wirkt großzügig – fast zu geräumig für den Grad der Publikumsdichte. 

Durch ein inneres, in den Strukturen von Chemie-Grafiken angeordnetes Stuhlauditorium ist die Raumsituation (Pauline Brun) jedoch vorausschauend flexibel gehalten. Sobald die Stuhlreihen voll sind, bekommt die Besetzung der Podeste etwas Skulpturales. Bleiben sie leer, wirken sie als landschaftliches Bühnenbild, werden sie vereinzelt besetzt, streift sie ein Hauch malerisch-romantischer Gebirgseinsamkeit, und für den Fall einer Vollbesetzung lassen sich die Kippmomente zwischen verschiedenen Stufen von Natur- und Kulturlandschaft vorstellen, vom Bergbau zum Halden-Amphitheater, vom Berginnern über das Außen ins Theaterinnere. Ein Banner mit ausgeschnittener sechsgliedriger Hand, umrahmt von einem Teilchen oder Planeten auf seiner Umlaufbahn und klassizistisch anmutender Blattornamentik, macht indes klar: Diese Landschaft ist ideologisch kontaminiert. 

In diesem konkreten Setting setzt der „Nukleare Kern“ mit Atmen ein. Dass aus dem gleichmäßig verstärkten Luftkanalsound von Zoë Knights, Zwoisy Mears-Clarke und Cathy Walsh, platziert auf mittig im Dreieck angeordneten Stühlen, irgendwann ein Röcheln werden wird, auch das ist als „Kernbotschaft“ atmosphärisch vorfühlbar. Jule Flierl und Mars Dietz haben im letzten Jahr zum Uranabbau im Erzgebirge zwischen 1946 und 1990 recherchiert. Ausgeführt unter dem Dach einer zwischen sowjetischen und DDR-Anteilen aufgeteilten Aktiengesellschaft, der SDAG Wismut, lieferte der Betrieb einen großen Teil des für die Kernwaffenindustrie der UdSSR benötigten Urans. Oder wie Jule Flierls „Opa Harry“ sagt: „Wir mussten doch den Russen helfen, das nukleare Monopol der USA zu brechen.“

Diese Mission ging nicht ohne ideologisches Futter: Tänze, Kulturpaläste, Plansolls und Erbauungsslogans. Sie endete in einer „ausgebeulten, eingekerbten und ausgehöhlten“ verstrahlten Landschaft mit „überdimensionierten Narben“ (wie es Luise Meier in einem dramaturgischen Begleitfragment beschreibt) und nicht selten mit Lungenkrebs, der bereits zu Marie Curies Zeiten zum ersten Mal als solcher diagnostiziert wurde. Wie staatliche, gesellschaftliche und persönliche Motivationen ineinandergreifen, wie sie sich zur Landschaft verhalten, und wie der Berg, das Gestein, das Ökosystem darauf antworten – das ist die Versuchsanordnung, in die sich das „Wismut“-Team in den Sophiensælen auf Expedition begibt. Ausgestattet mit Grubenlampen und stylischen individuellen Overall-Outfits, deren Design (Claudia Hill) mit Applikationen und Arbeitskleidungselementen als Grubenkluft-Bending durchgehen kann. 

Ideologisches Vokabular aus Gedichten und Parteiprogrammen wird geschüttelt und in Cut-up-Aphorismen um die Wörter „Bewusstsein“, „Berg“, „Aktionismus“, „Arbeiter“, „Masse“, „Kultur“, „Plan“, „Partei“ arrangiert. „Bergbewusstseinsentwicklungsarbeit“ ist dann zum Beispiel eines der real-irreal wirkenden Sprach-Ideologie-Kombipakete. Diese Rhythmisierung des Raums durch Atem und „Worthülsen“-Sprache mit gleitenden Übergängen zwischen Deutsch und Englisch hat Jule Flierl in letzter Zeit als ihr Markenzeichen herausgearbeitet und sich damit bewusst in die Stimmtanz-Tradition, die Valeska Gert vor hundert Jahren initiiert hat, eingereiht beziehungsweise diese Tradition durch ihre Fortsetzung überhaupt erst verortet und begründet.

In ihrer Recherche „I Intend To Sing“ kam der Durchbruch, mit dem verzerrt und zerdehnt expressionistischen Solo „Störlaut“ (beides an den Sophiensælen uraufgeführt) zu den Tontänzen Valeska Gerts erschuf Jule Flierl sich zu einer Ahnung eines „monstre sacré“ ihrer Disziplin. „Wismut – A Nuclear Choir“ ist nun das erste Gruppenstück, für das sie die Choreografie entwickelte. Und es ist, obwohl nicht nur ein nuklearer Kern, sondern auch fast das gesamte Produktionsteam als „Nuclear Choir“ im Bühnenraum mitmischt, eigentlich ein Solo. Das zeigt sich, wenn die Protagonistin die Atmosphäre im letzten Drittel an einen Teil ihrer Familiengeschichte im sächsischen Schneeberg bindet, wenn das typisch Flierl’sche Idiom gesprochen wird („Seit ich mich mit Ökologie und sowas beschäftige, beginnt mich mein Großvater als Wessi zu behandeln.“) und wenn die zuvor in martialisch-expressive Posen gegossene Körperspannung mich plötzlich als mit Spannung zuhörende Zuschauerin erfasst.

Daher entlässt das Stück mit dem klaren Gefühl, dass im Verhältnis von Protagonistin und Chor noch einiges zu klären sein wird. In der jetzigen Form wirkt der Chor wie eine etwas überproportionierte atmosphärische Staffage, die sprachlich-stimmlich das übernimmt, was Jule Flierl allein auch hinkriegen würde. Und auch wenn die Kollektivideologie zur Bergbaukumpelei zu passen scheint, wirkt sie noch unentschieden aufgeklebt: weder abbildend noch ihren Abbildecharakter diskursiv brechend oder übersteigend. Ein wenig mehr Offenheit des stark durchchoreografierten Bühnenformats hätte vielleicht mehr Neugier auf die möglichen Bruchstellen und zu klärenden Fragen anfachen können. Das scheint eine erstmal verpasste Chance. Als ich aber dem Link im Abendzettel folge und mich auf dem die Performance begleitenden Blog https://anuclearchoir.tumblr.com/ umsehe, bekomme ich eine Ahnung davon, dass die „Wismut“-Angelegenheit noch längst nicht erledigt ist. Und Neugier auf die zukünftige Ausdehnung des verschachtelten Projekts zwischen Recherche, Magazin, Katalog, Performance, Essay, Diagnose und Landschaftsecho. 


Am 19.10.2019 Tischgesellschaft: Publikumsgespräch im Anschluss an die Vorstellung „Wismut – A Nuclear Choir“ in den Sophiensælen.