Jeden Januar strömt das tanzinteressierte Berliner Publikum in den Sophiensælen zur Auftaktveranstaltung der Tanztage zusammen. Mit Fokus auf aufstrebende Chroegraph*innen, die in Berlin arbeiten, gibt das zehntägige Festival seit nunmehr 25 Jahren den Startschuss für das neue Tanzjahr.
Die präsentierenden Künstler*innen der Tanztage sind meist Absolvent*innen Berliner Tanz- und Kunstinstitutionen, darunter das HZT, balance 1 und die UdK. Wenn eine Arbeit gut ankommt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie wieder aufgenommen wir – es kommt nicht selten vor, dass die Debutant*innen der Tanztage später für ganze Produktionen gebucht werden. Ohne übergeordnetes Thema ist das Festival sehr vielschichtig. Von skulpturalenArrangements, über herausfordernden Publikumseinsatz (Tchivetts „Hollow Matters“) bis hin zu TED-Talk-artigen Solos zur Diskriminierungsproblematik (Anjal Chandes „This is how I feel today“) gibt es kein Thema, das zu abwegig wäre. Das Budget ist klein, die Probezeit kurz und so stecken viele der präsentiertenArbeiten noch im Anfangsstadium oder haben einen experimentellen Charakter. Entsprechend sind die Tanztage ein überaus fruchtbarer Boden und das diesjährige aufregende Programm bot viele spannende Ideen.
Während ich einen freien Stuhl für Julia Rodriguez „By the Time you See This It’ll Be Gone“ suche, bemerke ich drei Performer, die zusammengedrängt am Rand des Raumes warten. Sie sind dort seltsam platziert, noch nicht einmal richtig auf der Bühne und ich nehme daher an, dass sie sich in die Mitte bewegen werden, wenn es losgeht. Aber das tun sie nicht. Kaum wahrnehmbar beginnen sie damit, leise undeutliche Laute von sich zu geben – Rauschen, Murmeln, Gurgeln – ihre Körper immer noch am Rand des Raumes. Langsam wird das Brummen zu einem lauten Zischen, das Summen zu einem Piepsen. Es sind die Geräusche von Autos, die auf einer befahrenen Straße vorbeifahren, gnadenlos hupen sie Fahrradfahrer und Fußgänger an. Das Gewirr von Geräuschen und Stimmen wird heftiger, die Symphonie starken Verkehrs steigert sich zum Crescendo und dann … nichts. Es ist fast still. Aber als das letzte ‚iep’ verhallt, erzeugen die Performer eine neue Geräuschkulisse. Diesmal klingt es mehr nach White Noise oder wie viele Radios durcheinander – vielleicht eine Unfallszene oder ein terroristischer Anschlag. Einzelne Worte und Satzfetzen sind jetzt verständlich, immer wieder werden wir auf neue Klangebenen geführt und dann, ohne Warnung, hängen gelassen, ohne Anhaltspunkt, in äußerster Verwirrung.
Lola Rubio, mit einer bronzefarbenen Lockenperücke auf dem Kopf, macht einen kleinen Abstecher vom Rand und schleift ihren Stuhl in die Mitte der Bühne. Sie sitzt da, den Blick starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Sie murmelt vor sich hin wie eine Verrückte, ihr falsches Haar voller Geheimnisse. Sie erinnert mich an eine Seelensucherin, die ich einmal in der U-Bahn getroffen habe, die dort, balancierend auf dem schmalen Grad zwischen Wahnsinn und Genie, ihre Wahrheiten feilbot. Die anderen, auch mit Perücken auf dem Kopf, folgen kurz danach. Sie überqueren die Bühne, darauf bedacht, ihre Gesichter nicht zu zeigen und landen mit den Stirnen an der Wand wie von Magneten angezogen. Jetzt tut es mir leid, dass ich mir am Anfang ihre Gesichter nicht genauer angeschaut habe. Es ist zu spät, sie werden uns nicht mehr anschauen, uns die Befriedigung ihres Blickes nicht mehr gewähren. Sie hängen sich seitwärts an die Säulen, klettern auf die Rohre, rufen in die Ecken des Raumes – wo der Beton ihre Stimmen verschluckt. Die Not ist spürbar, aber der Notfall selbst tritt nicht ein.
Mit „Nostalgia in Reverse“ erschafft Forough Fami eine komplett andere Szenerie. Eine gezackte Linie aus Neon-Klebeband teilt die Bühne, an ihr ausgerichtet stehen einzelne glänzende Plastikobjekte in Trichterform, die im Schwarzlicht leuchten. Fami und ihr Tanzpartner Michiyasu Furutani erscheinen ausstaffiert mit silbernen Trainingsanzügen und futuristischer Tauchausstattung. Aus dem Nirgendwo taucht ein großer grauer Fusselball im Rampenlicht auf, der sich von selbst zu bewegen scheint. Eine unheimliche körperlose Stimme beginnt zu sprechen, so als käme sie aus der gesichtslosen Kugel, die jetzt still in der Mitte der Bühne liegt. Es fühlt sich an, als wären wir irgendwo in Raum und Zeit verloren, unterwegs in einem Schurken-Raumschiff, bewohnt von sprechenden Objekten und einsamen intergalaktischen Kriegern.
Wie im Film bewegen sich Fami und Furutani in die Szene hinein und heraus wie gewichtslose Avatare. Ein stetiger Beat scheucht sie auf der Bühne im Kreis wie kreisende Planeten in einem Limbo, in dem es keine Anziehungskraft gibt. In diesem sich selbst genügenden Universum scheint es eine innere Logik zu geben: eines nach dem anderen werden die Plastikteile zusammengesteckt wie in einem 3D-Puzzle. Und als das letzte Teil eingefügt ist, ist der Code geknackt, wie bei Tom Raider, und eine neonfarbene Techno-Box erscheint. Furutani steigt hinein und schüttelt dabei seine Glieder zum Takt der Musik, als wollte er der Leere entkommen, die dahinter liegt. Aber anstatt seinen Tanz anzutreiben, überwältigt ihn der Sound. Das gewohnte Bild eines Körpers, der unter trübem Licht zu lauter Technomusik zuckt, lässt keinen Raum für Interpretation. Für einen Moment wird Furutanis Bewegung vom Stereotyp des Berliner Clubgängers überlagert. Dieser clowneske Augenblick gefällt mir aber durchaus.
Als ich mir die Credits durchlese, bin ich beeindruckt davon, wie viele Leute an diesem Stück mitgewirkt haben. Die Stimme jeder Künstler*in ist ganz deutlich erkennbar, dennoch mit allen anderen zu einem stimmigen Ganzen verwoben. Es scheint, als wäre dieser schillernde, flüchtige Mikrokosmos ein Treffpunkt der Geister, die zusammen in unbekanntes Territorium schlittern. Das einzige was fehlt, ist ein Non-Player-Character oder ein kleines bisschen Künstliche Intelligenz, aber würden uns die in dieser nahtlosen Simulation des virtuellen Strudels überhaupt auffallen?
Deutsche Übersetzung von Bettina Homann