Baby, I’m sick tonight, Olivia Hyunsin Kim/ddanddarakim ©Mayra Wallraff

Aufstand der Löffel gegen das System. Oder: Chapeau! So kann intersektional gedachte Inklusion im Theater funktionieren

Die Stand Up-Comedy Baby I’m Sick Tonight ist eine Show zum Lachen und zum Heulen. Vor der Premiere (25.04.2024, Sophiensaele) sprach ich mit der Choreografin Olivia Hyunsin Kim über chronische Erkrankung und die Missstände im Umgang mit ihr.

Kranksein ist eine einsame Angelegenheit. Während ich diesen Artikel in die Tastatur tippe, liegt meine Mitbewohnerin schon seit 14 Tagen mit einer hartnäckigen Bronchitis und unsäglichen Hustenanfällen im Bett. Manchmal steht sie auf und wir essen gemeinsam. Am Dienstag hat sie sich zum Kiosk gegenüber geschleppt und sich einen Lotterieschein für die EuroMillionen gekauft. An diesem Tag gab es etwas, worauf wir gemeinsam hin fiebern konnten. Meist aber, sagt sie, möchte sie am liebsten niemanden sehen. Unleidlich sei sie und keine gute Gesprächspartnerin.

Krankheit ist eine einsame Angelegenheit. Denn die Erschöpfung, die wir fühlen, das Leiden am eigenen Körper, ja sein Versagen, machen uns unbrauchbar für den geteilten Alltag in einer Welt, die sich um Arbeit, Leistung und Erfolg dreht. Wir sind allein mit den Schmerzen, die wir empfinden, denn sie entspringen keiner äußeren Ursache, sondern den mysteriösen Vorgängen im Inneren unseres kaputten Körpers. Ist das so? Olivia Hyunsin Kims großartige Performance zeigt, denke ich, zweierlei auf: die Anatomie oder innere Logik einer chronischen Krankheit, aber auch jene äußeren Faktoren im öffentlichen und privaten Leben, in Gesundheitssystem und Arbeitsalltag, die das Leiden erkrankter Menschen, statt es zu lindern, sogar noch maßgeblich verschlimmern.

So wie etwa im Fall von Sara, einem „fake character“, deren Geschichte Hyunsin aus den Schicksalen von 200 Patient*innen der Yale Fertility Clinic zusammenstückelt. Sara, die in Folge einer zu spät diagnostizierten Endometriose an Krebs erkrankt, wird empfohlen, ihre Eizellen einzufrieren. Nach einer strapaziösen Hormontherapie begibt sie sich zur Eientnahme in die Klinik. Der Eingriff verursacht bei Sara höllische Schmerzen. Doch die Ärzt*innen reagieren nicht etwa mit Besorgnis, sondern „perplex“ und fragen sie schließlich, beinahe beleidigt, ob sie etwa abbrechen wolle. Sara hält durch. Erst Monate später stellt sich heraus, dass ihr fälschlicherweise statt des starken Schmerzmittels Fetanyl lediglich eine Kochsalzlösung verabreicht wurde.

Saras Fall steht für eine beschämende Statistik, die belegt, dass Frauen im Vergleich zu Männern häufiger falsch diagnostiziert, schlechter therapiert und schlichtweg nicht ernst genommen werden. Als Dr. Kim führt Hyunsin uns in einer musical-esken Wartezimmerszene vor, wie das läuft: Gebeten, die eigenen Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10 einzuordnen, klagen Kims Patient*innen (Jill B. Suffner und Yvonne Sembene) laut und deutlich über eine 10, woraufhin Dr. Kim mit hochgezogenen Brauen „also sagen wir 7“ antwortet. Als der hysterische Patient*innenchor singend gesteht, eine Selbstdiagnose per Google versucht zu haben, wirft Dr. Kim die beiden aus der Praxis.

Die haarsträubenden Geschichten, die ich aus Hyunsins Jugend, aus den historischen Berichten über Hysterie-Patient*innen in der Pariser Psychiatrie La Salpêtrière und aus den heutigen Lebenswirklichkeiten chronisch kranker Menschen höre, drehen mir bisweilen den Magen um. Und das, obwohl ich zugleich aus vollem Hals über den skalpellscharfen Humor dieser Stand Up-Comedy lache. Auch wenn ich bleibe, fühlt es sich gut an, dass ich als Teil des Publikums zu Beginn des Stücks darauf hingewiesen wurde, den Raum jederzeit verlassen und wieder zurückkommen zu dürfen. Als „relaxed performance“ ist das hier eine Veranstaltung, bei der ich außerdem nicht unbeweglich und still auf meinem Stuhl sitzen muss. Diese Ansage ist, neben einer Reihe weicher Sitzsäcke für Menschen, die nicht gut auf Stühlen sitzen können, und der live-Übersetzung aller vier Aufführungen in Deutsche Gebärdensprache (DGS) (Hyemi Jolee und Aniella Tiedje), eine von vielen Maßnahmen, die das Stück für ein diverses Publikum zugänglicher machen sollen.


©Mayra Wallraff


Solche Maßnahmen zu treffen, berichtet Hyunsin in dem Gespräch, das ich wenige Tage vor der Premiere mit ihr führte, verbleibe jedoch häufig in der Verantwortung der Künstler*innen selbst. Ihrer Meinung nach müssten sich Institutionen in der Organisation und Finanzierung von Access-Maßnahmen in Bezug auf das Publikum nach wie vor stärker beteiligen. Doch noch schlechter sehe es für die Künstler*innen selbst aus. Seit der Covid-Pandemie spreche man in der freien Theater- und Tanzszene zumindest über Ausfallhonorare. Ein zufriedenstellendes und verbindliches Konzept gebe es aber nach wie vor nicht. Auch mit dem sogenannten Access-Rider (ein Dokument, in dem ggf. besondere Bedarfe und Einschränkungen von Künstler*innen an Theater und andere Institutionen kommuniziert werden) sei es kompliziert. „Wer traut sich schon, so etwas abzugeben?“ fragt Hyunsin. Sie selbst habe es noch nie gemacht. Zu groß ist die Befürchtung, dass die eigenen Anforderungen zum Hindernis für das Zustandekommen einer Zusammenarbeit werden.

Gerade das letzte Beispiel macht deutlich, worauf Hyunsin in unserem Gespräch wie auch in ihrem Stück immer wieder hinweist: Krankheit ist nicht gleich Krankheit. Wer (noch) nicht gefragter Superstar in der Szene ist, oder bereits aufgrund von bspw. Hautfarbe, Nationalität oder Klassenzugehörigkeit Diskriminierung erfährt, wird den Teufel tun, sich auch noch als Spoonie* zu outen und damit womöglich den Gig zu riskieren – beziehungsweise noch weiter ins gesellschaftliche Abseits gestellt zu werden.

Und damit schließt sich der Kreis und ich kehre zur Einsamkeit der Krankheit zurück, der Olivia Hyunsin Kim und ihr Team in Baby I’m Sick Tonight mit schamloser Offenheit, Humor und kollektivem musikalischen Einsatz eine strahlende und ermutigende Geste gegenüberstellen.


*Spoonie ist eine Selbstbezeichnung chronisch kranker Menschen, die sich auf die 2003 von Christine Miserandino formulierte Spoon Theory bezieht. Mithilfe von Löffeln veranschaulicht die Spoon Theory, dass chronisch kranken Menschen im Vergleich zu Gesunden nur eine begrenzte Menge Energie zur Verfügung steht, mit der diese tagtäglich haushalten müssen.


Baby I’m Sick Tonight von Olivia Hyunsin Kim feierte am 25.04.2024 in den Sophiensaelen.