Der Double Bill A/way Home / Saudade de ti premiert am 21. April 2024 im DOCK 11. Zwei Duos von Carlos Aller in Zusammenarbeit mit Cecilia Bartolino erkunden Herkunft und gesellschaftliches Miteinander.
Eine anscheinend gut situierte Person sitzt am Straßenrand, zusammen mit einem Menschen, der auf der Straße lebt. Sie teilen einen Regenschirm und hören gemeinsam Radio. In A/way Home passiert das, was sonst selten passiert: Vorurteile und die damit verbundenen Hindernisse werden überwunden und es kann aufeinander zugegangen werden. Die Begegnung der beiden Tänzer*innen wird zu einem Spiel, „un gioco“, dabei treten sie erst zaghaft, dann unbeschwert aufeinander zu. Dann aber eröffnen sich neue Fragen und ausgerechnet die wohlhabende Person hinterfragt ihre Existenz. Mit ausdrucksstarken Bewegungen und Gesichtszügen beobachten wir Cecilia Bartolino wie sie mit ihren Fingern ihr Gesicht verzieht, an ihm zerrt, es zu verändern versucht. Will sie lachen – für die Kamera? Soll sie lachen? Muss sie lachen? Oder doch weinen? Ein Ausdruck von Verzweiflung verwandelt das lachend-grinsende Gesicht. Streichende Bewegungen der Hände werden zu Kratzen und dann doch zu Liebkosen, wobei die aggressive Komponente nicht wegfällt. Verletzlichkeit tritt anstelle der vorherigen Unantastbarkeit.
Auf der Bühne liegen Blumenblüten, altes Zeitungspapier, ein Taschenradio, ein paar hohe Schuhe, ein Regenschirm. Einige Flecken von weißem Pulver sind zu sehen. Eine lange Reise steckt hinter dem Endbild der zwei Künstler*innen, die sich den gleichen Regenschirm teilen und aus demselben Radio hören. Eine Reise, markiert durch unterschiedliche Herkunft und eine facettenreiche Choreografie des Neu-Entdeckens, Sich-Verlierens und in unerwarteten Positionen Wiederfindens.
In Saudade de ti dürfen wir dem Innenleben zweier Menschen zuschauen, die aufeinander warten. Nervosität verkörpert sich als staccato Bewegungen, die aussehen, als würde eine Stroboskop-Beleuchtung blitzen, dabei hat sich die Lichtstimmung nicht geändert. Als würden Zuschauende ein altes Fotobuch durchblättern, sehen wir Carlos Aller in verschiedenen Haltungen und Zuständen der Zerrissenheit. Währenddessen erinnert sich die andere Figur durch das Riechen an einem Tuch: an eine andere Zeit, ein Zuhause, einen lieben Menschen? Erneut beginnt ein Spiel, in dem die beiden Wartenden sich begegnen, sich annähern, streiten; die Facetten eines Miteinanders aufzeigen. Das Tuch, die Erinnerung, wird weggenommen, versteckt, wiedererobert. Um dann wiederum einzutauchen, zu versinken, in das, was einmal war, vielleicht auch in das, was hätte sein können und nie die Möglichkeit bekam, sich zu entfalten.
Mit Elementen aus zeitgenössischer Tanzakrobatik, HipHop-Einflüssen und einer ausdrucksstarken Bewegungssprache entwickelt sich das Geschehen zu einer turbulenten Auseinandersetzung. Wie wir erinnern und was erinnert werden darf, wird dabei in Frage gestellt: Wer man ist und was man hätte sein können, woher man kommt und was man im Hier und Jetzt vermisst. Weil es nicht da ist, nicht erreichbar ist, weil die Umstände es nicht ermöglichen, Zugang dazu zu haben, wird schließlich zurück gelassen und die zwei Menschen auf der Bühne gehen aufeinander zu und umarmen sich. Schließlich haben beide ja nur aufeinander gewartet.
A/way Home / Saudade de ti von Carlos Aller in Zusammenarbeit mit Cecilia Bartolino premierte am 21. April 2024 im DOCK 11.