An den Übergängen von Körper und Artefakt hält sich die Ausstellungs-Performance „Hollow Matters“ von Antoine Carle auf. Die Arbeit des französischen Tänzers, Improvisationskünstlers und Performers war vergangenes Wochenende im Rahmen der Abschlussarbeiten im Masterstudiengang Choreografie am Hochschulübergreifenden Zentrum für Tanz zu sehen.
Industriehalle, Atelier oder medizinisches Laboratorium? Das alles sind Assoziationen, die mir kommen, als ich an diesem Abend das Studio 14 der Uferstudios betrete. Eine Hand voll riesiger und rollbarer Podeste dient als Präsentationsfläche für zahlreiche Objekte aus Silikon, Wachs und Gips — eine wilde Sammlung von Formen, die Körperteile andeuten, aber auch ganze Abgüsse von Körperteilen finden sich hier zusammen, mehr zufällig als gewollt oder gewollt zufällig? Rote Wachsohren liegen da auf einem wie mit Blut beschmierten Tablett, hohle Gips-Torsi mit Armen stehen wie Aliens im Raum. Die Objekte laden dazu ein, sie anzufassen und von allen Seiten zu betrachten. Denn nur selten ist gleich klar, worum es sich hier handelt. Umso durchschaubarer ist das Konzept, mit dem Carle arbeitet: Ausstellungsstück, Choreograf*in, Performer*in oder Betrachter*in, jeder darf hier einmal alles sein. Damit das auch keinem entgeht, bittet Carle das Publikum vor Einlass um Aufmerksamkeit: In der folgenden Aufführung, die wie eine Ausstellung konzipiert sei, dürfe sich jeder frei bewegen …
Ja, … gut, … ich spiele mit und setze mich neben ein einsam dasitzendes Bein auf ein Podest, bearbeite durch mein Hinzutreten also das bereits vorliegende künstlerische Material sowie auch den Betrachter*innen-Blick.* Dass das funktioniert, zeigt sich unmittelbar: Zwei Besucherinnen kichern über das absurde Mini-Spektakel, das sich hier völlig unabsichtlich (ha, ha!) herstellt, zwischen Original und Abbild, natürlichem und künstlichem Werk, Körper- und Objektmaterial. Die „echten“ Performer*innen heben sich zunächst nicht wesentlich von den Besucher*innen ab. Dann beginnen auch sie die Objekte zu examinieren. Mit vermeintlich natürlicher Neugier, aber etwas zu aufgesetzt, schieben sie sich und die Objekte durch den Raum und versehen möglichst viele/s mit neuen Perspektiven (, einschließlich der Kappe meines Kulis — hach ja, das muss jetzt wohl unbedingt sein). Da ich zuvor einen Blick ins Programmheft gewagt habe, verstehe ich gleich, was hier unschwer zu erkennen ist: Dem choreografischen Verständnis von Carle liegt die Vorstellung zu Grunde, dass alle Materie der Welt, einschließlich des tanzenden Körpers, in einem konstanten Fluss ist.
Berührt haben mich am Übergang von Körper zum Artefakt an diesem Abend nur zwei Begebenheiten: Rafi Martin trägt einen wie ein lebloses Geschöpf wirkenden Silikonlappen auf seinen Armen und befestigt ihn an ein paar von der Decke hängenden Seilen. Josefine Mühle steht davor, auf einem der Podeste und lässt die Bewegungsqualität der abstrakten Objekt-Marionette in ihren eigenen Bewegungen widerhallen. Ihr Körper erscheint dabei beinahe so zweidimensional wie das hängende Material selbst. Während ihre Beine quasi in einem Stück vom Podest baumeln, bewegt sie ihren Oberkörper weiter als würde jemand mit unsichtbaren Schnüren daran zupfen. Das alles tut sie mit einer subtilen Präzision und Wachheit, die faszinierend ist. Einen bleibenden Eindruck hinterlassen auch die während der Vorstellung entstandenen Wachsabgüsse von Jeremy Barzic — Gesichter und vor allen Dingen Hände, die scheinbar wie aus der Platte des Podests ragen und in denen jede Hautfalte verblüffend echt zu sehen ist. Sie symbolisieren und materialisieren an dieser Stelle die Vergänglichkeit der Aufführung. Und auch jene Vergänglichkeit, im Sinne einer Vanitas, die völlig natürlich ist. Da der Mensch keine (oder nur beschränkt) Gewalt über das Leben hat. Das Publikum folgt marionettengleich den Performer*innen, die das Podest mit den noch warmen Körperobjekten aus Wachs zum Ausgang schieben …
- Im Programmzettel zu „Hollows Matters“ wir danach gefragt, wer wen bearbeite — Der Betrachter das Material oder umgekehrt.