„Tierforme/L/N“, Martin Nachbar © Pecca M Kinen

Auf allen Vieren durch die Tanzgeschichte

Das Tanzfonds Erbe Projekt Tierforme/L/N von Martin Nachbar begibt sich in den Sophiensaelen auf Spurensuche des Postmodernen Tanzes und künstlerischer Tierstudien. Ohne viel Gebrüll. Mit Abstand.

Warum gucken Menschen Tiere an?

Wahrscheinlich ist das Theater ein angemessener Ort, um darüber nachzudenken. Immerhin haben wir es hier ständig mit der Verabredung zu tun, einander zu bestaunen, oder etwas füreinander zur Schau zu stellen. Wenn sich dann zeitgenössische Tänzer*innen mit dem Bewegungsvokabular von Tieren auseinandersetzen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass etwas Verque(e)res, Aufschlussreiches dabei herauskommt – ein Erkenntnisgewinn über die Spezies Mensch, dessen Artgenossen und ihre Verfasstheit in der Welt. Das ist dann eine Erwartungshaltung, die sich schwer einlösen lässt – haben wir es eben
doch mit einem sehr spezifischen Interessensgebiet und einer ebenso überschaubaren Expert*innenrunde zu tun, die um das Thema der „Tierforme/L/N“, um die Genesis des Postmodern Dance, kreist.

An diesem Abend kommen zwei sehr unterschiedliche Tanzstücke in den Sophiensaelen zusammen: Simone Fortis beinahe 60 Jahre alte „Zoo Mantras (aka Sleep Walkers)“ in der deutschen Erstaufführung als Rekonstruktion von Martin Nachbar und Claire Filmon sowie Martin Nachbars eigene „Animal Dances“. Knallharte Mimesis auf der einen Seite (Forti) – ironische Distanz auf der anderen (Nachbar). Dass aus ihrer Begegnung ein Stück angewandte Tanzgeschichte erfahrbar wird, ist schon ein kleiner Coup, der von Kuratorin Sigrid Gareis initiiert wurde.* Dass dessen Würdigung einiges an tanzgeschichtlichen Wissen vom Publikum abverlangt – fast schon ein Naturgesetz.

Andererseits: Ist es nicht vermessen, dass wir Menschen immer nur von uns, unseren Erfahrungs- und Wissenshorizonten ausgehen? Nehmen wir an, die nächste HKF Jury bestünde aus Zootieren. Was halten die eigentlich von uns? Außerdem: Wenn sich der eine wirklich aufregende Moment des Abends zwischen einem kleinen Hund und dem Performer ereignet, ist das auch ziemlich verwegen.

Martin Nachbars „Animal Dancers“ sind deswegen interessant, weil sie in einem guten Maße daneben sind. Sie stellen die Nachahmung als solche aus. Hier geht es nicht etwa darum, die Virtuosität der Verwandlung herbeizuführen – es handelt sich vielmehr um ein Verkleiden, das als solches sichtbar gemacht wird, wenn Nachbar von der Kostümbildnerin Marion Montel mit allerlei Fell, Decken und Tentakeln behangen wird. Während der gesamten Performance trägt er einen schwarzen Fellpanzer als Rucksack herum, später folgen Pferdemähne und Fuchs(?)-Schweif. Das Tier als Sehnsuchts-Ort des immer schon „Anderen“ (in uns?) stellt sich als Maskerade, als Projektion heraus. Allen Beteiligten muss klar sein:

Es handelt sich beim galoppierenden Wesen um Martin Nachbar, im Versuch, ein Pferd dazustellen, nicht etwa, zu einem Pferd zu werden. So leicht kommen wir nicht aus unserer Haut – kein Hindernis, es mit dem nötigen Ernst zu versuchen. Hinterbeine schlagen aus, der Performer scharrt mit den Hufen(?), liegt reglos auf der Seite im Gras und Kinder wie Tiere (in uns) sind begeistert.

Zurück zum Menschen als Mängelwesen: Natürlich muss Nachbar am Ende doch noch einen Walzer aufführen und die ganze kritische Distanz wieder einholen, die er auf dem Weg (in den besten Momenten) schon fast verloren hatte. Was in dieser Performance vor allem erfahrbar wird, ist der Abstand zwischen Versuch und Scheitern. Bellender Applaus vom Publikum verweist auf die Lust am Spiel und später frage ich mich, ob wir im Theater noch öfter über Dressur sprechen sollten…

Was ist interessant daran, Bewegungsqualitäten von Tieren als Quelle für (menschlichen) Tanz zu bearbeiten? Naheliegende Antwort: ein unerschöpflicher Fundus. Simone Fortis „Zoo Mantras (aka Sleep Walkers)“ nähert sich dem Vokabular von Flamingo, Eisbär, Seealge und Wasserfloh an – und zwar im absoluten Versuch, die eigene Gestalt zu überwinden. Eine der Ausgangsfragen: Ist es möglich, mich wie ein Tier zu bewegen? Kann ich wirklich ein Tier sein? Es ist dann auch nur folgerichtig, wenn die Entgrenzung der Künste mit einer Überwindung des Menschseins einhergeht.

Tiere spenden Trost. Simone Forti, eine der großen Begründer*innen des Postmodernen Tanzes, hat damals nach ihrer zweiten Scheidung einige Zeit im Zoo verbracht. Rom 1968 – die Künstlerin mit Liebeskummer. Ihr Tanz ist damals und heute von der Bildenden Kunst informiert – ist Minimalismus und Objekt im Raum. Fast 50 Jahre später sehen wir eine Videobotschaft von ihr und sie spricht über diese Arbeit, als sei es vorgestern gewesen. In der gemeinsamen Rekonstruktion von Claire Filmon und Martin Nachbar erscheint dieser damals so wegweisende Score heute als ein Trio der Differenzen zwischen den Körpern und künstlerischen Welten. Während Filmon, die lange mit Forti arbeitete, ihrem Bewegungsvokabular noch am nächsten kommt, wirkt Nachbar (besonders in der Gestalt der Seealge) irgendwie sperrig, und das markiert den eigentlich interessanten Aspekt: Die flachen Drehungen des Körpers am Boden erscheinen bei der 82 Jahre alten Forti selbst über Videoprojektion sehr viel anschmiegsamer. Es ist nicht so leicht, über den Meeresboden zu gleiten. Am Ende erzählt dieser Abend dann mehr über Körperpraxis, Diskurs und Tanzgeschichte als dass er das Anthropozän durchbrechen würde. Bis zum nächsten Zoobesuch…
Am Ende macht sich die Vermutung breit: Die Qualität der Tiere, dass man sie in den meisten Fällen schamlos angucken kann – sie erwidern unseren Blick nicht, sie schämen sich nicht und wenn dann sind wir ignorant genug, es nicht zu bemerken – in dieser ganz besonderen Qualität liegt vielleicht so etwas wie das „Authentische“, das auch Simone Forti zu einer bestimmten Zeit in Rom fasziniert hat.

*Beide Arbeiten sind ein Teil des Tanzfonds-Erbe Projektes „Tierforme/L/N, das über drei Abende und mehrere Workshops im Vorfeld in den Sophiensaelen stattfindet und von Workshops zu „Tierdrag“ und „Blick-Politiken“ gerahmt wird. Einzelne Performances können auch nur schwerlich ohne den ganzen riesigen philosophischen und tanzgeschichtlichen Kontext betrachtet werden, von dem sie über weite Strecken getragen werden. Insofern referiert dieser Text auch nur auf einen kleinen Ausschnitt dieser ganzen vertanzten Evolution.