„Her Noise“, Company Christoph Winkler ©Dieter Hartwig

An die Frau in der M4

Parvathi Ramanathan sah „Her Noise“ von der Company Christoph Winkler und schreibt an eine Frau, die ihr in der Tram begegnet. Die Inszenierung hatte am 29. Dezember 2022 im Radialsystem Premiere.

Liebe Mitfahrerin in der M4,
(am 29. Dezember 2022; du stiegst gegen 23:50 am Antonplatz aus)

ich habe deine Stimme im Ohr. Also, tatsächlich erinnere ich ihren Klang nur vage. Deine Worte ertönen in mir. Wobei ich kein Arabisch verstehe. Doch wie du sprachst, das höre ich immer noch. Der Klang deiner Stimme vermittelte mir dein Selbstvertrauen. Du bist eine Kämpferin. Du stehst zu deiner Meinung. Du kannst dich durchsetzen. Wem auch immer du diese Sprachnachricht schicktest: er/sie wird verstanden haben. Hammer! Schade, dass dieser andere Fahrgast hinten in der Bahn dich zum Schweigen bringen konnte. Als er sich laut räusperte, damit du still bist, lächeltest du entschuldigend. Ein seltsamer Anblick. So seltsam. Ich hörte, als du leiser wurdest und dann schwiegst. So ein arroganter Typ, wie er da an seinem Bier nuckelte, nachdem er dir das Wort genommen hatte. Ich wünschte, du wärst dir deiner selbst nicht so gewahr geworden.

Ich frage mich: Hättest du anders agiert, hättest du die Performance gesehen, von der ich an jenem Abend zurückkehrte? „Her Noise“ war der Titel, ein choreografisches Konzert für fünf Frauen, produziert von der Company Christoph Winkler. Fünf Frauen ließen unreguliert und artikuliert ihre Performerinnenstimmen erklingen. Sie zitierten und sampelten aus der Musikgeschichte und betonten mit klingenden politischen Gesten die Emanzipation der weiblichen Stimme.

Foto: “Her Noise” von der Company Christoph Winkler (Performerinnen: Sophie Prins (v) , Bria Bacon , Lisa Rykena , Sarina Egan-Sitinjak & Symara Sarai Johnson (h.v.l.n.r.)) ©Dieter Hartwig.

Laut und stolz waren die fünf Frauen. Auch ihre schwarzen Kopfbedeckungen waren laut und stolz. Der rote Boden, auf dem sie standen, war laut und stolz. Hinter ihren Podien schienen sie sich für ein Statement vor einer Pressekonferenz bereitzuhalten. Doch die formelle Anmutung schwand, kaum dass das Rasseln der Shaker in ihren Händen ertönte. Jeder Shaker produzierte das Echo eines eigenen Rhythmus, eine Reflektion auf die einzigartige Stimme jeder einzelnen Frau. Die Handbewegungen, das Kreisen der Handgelenke offenbarten ihren jeweiligen Standpunkt. Bald unterbrach das Rasseln. Die Stimmen überlagerten sich. Doch sie verstummten nicht. Vielmehr wuchs aus ihnen eine krasse Kraft, eine Intensität, die die ganze Performance andauerte. „Her Noise“ wechselte in einen coolen RnB-Musikvideo-Vibe. Die Performerinnen begannen zu singen und zu tanzen. Sie sprachen oder sangen, Sprechgesang gewissermaßen, häufig gehörte Aussagen über Frauensprache und weibliche Stimmen. „Der Klang deiner Stimme tut mir weh.“, „Du sprichst zu laut.“, „Du sprichst zu leise.“, „Sei keine Hure!“ Später montierten sie einen Sound aus Worten, Bellen, Grunzen, Heulen, Kreischen und Gelächter.  Ihr Scat und der DJ-Mix aus Tönen, zeitgleich und als hemmungslose Kakophonie im Raum, verwiesen auf die Anomalie unserer Gesellschaft: Ganz normale Klänge werden, wenn Frauen sie laut verbalisieren, als unanständig empfunden. Nicht nur der Unruhestifter in der Straßenbahn will Frauen zum Schweigen bringen, sie auffordern, ein anderes Gesicht zu machen, ihre Mimik zu verbergen.

Foto: “Her Noise” von der Company Christoph Winkler (Performerinnen: Sophie Prins , Sarina Egan-Sitinjak , Lisa Rykena , Bria Bacon & Symara Sarai Johnson (v.l.n.r.)) ©Dieter Hartwig.

Mit zahlreichen Beispielen, chronologisch zusammengestellt vom antiken Griechenland bis heute, demonstriert Anne Carson in ihrem Essay ‘The Gender of Sound’, wie der weibliche Klang in Qualität und Inhalt immer wieder als hemmungslos, monströs und sich gegen die Ordnung gerichtet dargestellt und im öffentlichen Raum für unpassend erklärt wird. „Her Noise“ feierte diese Stimmen. Die Performerinnen bildeten einen Singekreis und priesen geradezu beschwörend die Ahnen und die Erde. Ein von den Lehren der Diné (Navajo) inspirierter Song erklang als bewegende Ode an die geheiligte Schönheit. Vor allem ein Lied blieb mir in Erinnerung: „There’s a river of birds in migration – A nation of women with wings“. In diesem Chor flossen die Stimmen in harmonischem Klang und feiner Komposition ineinander.

Nun frage ich mich: Was wäre, bildeten die Stimmen keine Harmonien? Was wäre, wären sie nicht cool oder groovy? Abgesehen von ein paar schrillen Darstellungen von dem, was man in einem anderen Jahrhundert als „weibliche Hysterie“ bezeichnete, bewahrten die Performerinnen weitgehend ihre Contenance. Ich wünschte, sie hätten hier und da die Fassung verloren. Ich hörte ihre Stimmen, doch sie waren weder laut noch dissonant. Aber okay, ich wünschte auch, ich hätte dich in der Tram angesprochen, hätte etwas Ermutigendes zu dir gesagt oder wäre selbst laut geworden.

„Her Noise“ parodiert die sanften, unterwürfigen Frauenstimmen serviceorientierter virtueller Assistent*innen wie Siri, Alexa oder Google Maps. Die Performance unterstreicht die technologische Dimension alltäglicher Anwendungen, in denen die weibliche Stimme mit der genderspezifischen Wahrnehmung der Frauenrolle harmoniert. Auch hier klingen die Google Maps-Anweisungen nett und freundlich, wenngleich mit einer kleinen persönlichen Note: „Your destination is on the fucking right. / Das Ziel befindet sich auf der rechten Seite, verdammt!“

Foto: “Her Noise” von der Company Christoph Winkler (Performerin: Symara Sarai Johnson) ©Dieter Hartwig.

Elektronisches Pulsieren treibt „Her Noise“ weiter: Das bahnbrechende ‚Bye Bye Butterfly‘ der Komponistin und Deep Listening-Gründerin Pauline Oliveros inspiriert die Bewegungen der Performerinnen. Mit dieser und anderen Oden an die weibliche Stimme begründet „Her Noise“ einen Prozess der gemeinsamen Autor*innenschaft. Ihr Reigen stützt jede Tänzerin, die sich einreiht. Sie lächeln einander an, feiern sich gegenseitig, preisen die Frauenstimmen, die vor den ihren erklangen. Gemeinsam verleihen sie im Gesang ihrer Hoffnung Ausdruck: „free once more / wieder frei.“

Nun, vielleicht wirst auch du diese Songs hören. Vielleicht wirst du diesen sehr offenen Brief lesen. Ich hoffe das. Und ich hoffe, dass du weiter laut sein wirst, in der Tram, auf der Straße, bei der Arbeit, im Bett, bei deiner Familie, mit deinen Freund*innen. Ich hoffe, du wirst deine Stimme einsetzen. Nicht nur für harmonischen Gesang, sondern auch für kakophonischen Lärm.

Schrei es heraus
schreibt dir eine Frau, die auch manchmal ihre Stimme verliert.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


„Her Noise“ von der Company Christoph Winkler war vom 29. bis 31. Dezember 2022 im Radialsystem zu sehen.


Konzept: Christoph Winkler / Von und mit: Bria Bacon, Symara Johnson, Sophie Prins, Lisa Rykena, Sarina Egan Sitinjak / Musikalische Mitarbeit: Lucrecia Dalt, Stine Janvin, Colin Self, Lena Wicke-Aengenheyster / Bühnenbild: Valentina Primavera / Kostüm: Marie Akoury / Technische Leitung: Fabian Eichner / Produktionsleitung: Laura Biagioni / Grafik und Video: Gabriella Fiore