Das soun d ance Festival im Dock11 erforscht das Ungewisse durch Echtzeitkompositionen. Die ersten vier Aufführungen widmen sich dem poetischen und erzählerischen Potenzial elementarer Bewegungen.
Dämmerlicht. Sechs Tänzerinnen des internationalen und interkulturellen Kollektivs ONE : THIRD sind zunächst nur als Silhouetten erkennbar. Dann schrauben sich Edith Buttingsrud Pedersen, Annuka Hirvonen, Sarah Jegelka, Justyna Kalbarczyk, Stefania Petracca und Roberta Ricci mit kippenden Körperachsen in den Bühnenraum der Theaterhalle des DOCK 11. Alle tragen, das wird schnell sichtbar, individuelle Bewegungsuniversen in sich, die in Duos, Trios und Gruppen aufeinandertreffen, sich verlieren und neu zusammenfinden – mal als abstrakte Elemente einer größeren (Schwarm-)Form, mal als zwischenmenschliche Arrangements. Zusammen mit den loopartig gespielten, schliddernden und (nach)hallenden Sounds von Hannes Buder (elektrisch verstärkte Akustikgitarre) und dem zumeist orangegelben, Körper in Schatten vervielfachenden Lichtdesign von Emese Csornai kommt so innerhalb einer guten Dreiviertelstunde eine beinahe feierliche Atmosphäre von Weite und Offenheit auf. Musikalisch zuweilen etwas zu illustrativ angelegt, überzeugt „Fate of the galaxies“ in seiner Gesamtheit durch eine heranreifende kompositorische Gestaltung, bei der das momenthafte Zusammenspiel aller drei Künste unter ansteigender Dynamik zu einem stimmigen Ende findet.
In „On the shape of darkness“, der zweiten von insgesamt vier im ersten Festivalteil gezeigten Echtzeitkompositionen, lassen Yuko Kaseki und Emilio Gordoa ihr Publikum im Dunkeln sitzen – eine Unschärfe-Ästhetik, die (zumindest) zugunsten der Frage, was das Tänzerische am Sound ist, aufgeht. Per Mikrofon übertragene Kaugeräusche, aus einer Flasche rieselnde Körner, ein Schnipsel Papier, der durch eine kleine Lautsprecher-Windmaschine hörbar in Bewegung versetzt wird. All das sind Klangexperimente Gordoas, denen das fehlende Licht als körperlich spürbarer Verstärker dient – eine „Anatomie des Sounds, welche am Ertrag von Bewegung und Handlung entsteht“, wie es im Programmheft heißt. Ganz im Sinne des Buthos, in dessen Tradition Kaseki steht, bestimmt die materielle Auseinandersetzung mit allen greifbaren und nichtgreifbaren Bühnenelementen die installative Arbeit des Duos. Kaseki erprobt mit ihrem Körper das Material, bearbeitet mit silberglitzernden High Heels den Boden und (zer)schneidet neben den Haaren ihrer Perücke auch Luft. Wenn sie am Ende der Performance Emilio Gordoas Vibraphon mit ihrem ganzen Körper zerlegt und neu zusammensetzt, wird klar, dass Material wie Körper hier – sinnentleert – einer höheren Bewusstseinsebene dienen: befreiter Klangkörperraum.
Das Verhältnis ihrer jeweiligen Kunstsparten erkunden auch Jenny Haack (Tanz) und Hui-Chun Lin (Cello, Stimme). Ihr Duett „Ferne schweifen (Distant Wanderings)“ ist das Kontrastprogramm zu Yuko Kasekis und Emilio Gordoas Ästhetik. Während Letztere auf Reibung setzen, widmet sich das seit 2016 existierende Frauenduo namens Ocean of pink dots den subtilen Resonanzen zwischen Klang und Tanz – ein Annäherungsversuch zweier zufällig aufeinanderstoßender Fremder, die es trotz aller Verständigungsschwierigkeiten miteinander versuchen wollen. Das gelingt und wiederum auch nicht, denn das Scheitern, der Fehltritt und die erneuten Begegnungsversuche sind durchaus gewollt. So hängen die Performerinnen wie an einem von Geisterhand gezupften seidenen Faden, der den gegenseitigen Austausch zuweilen neugierig, keck und mit verspielter Komik in Bewegung hält. Ein einziges Mal, und das ist virtuos, gewinnt die Zitterpartie Halt als Hui-Chun Lin das Cello streichend rücklings über den Boden schiebt und das Publikum mit archaisch tönendem Sprechgesang in die Ferne (ab)schweifen lässt.
Den krönenden Abschluss des ersten Festivalblocks bildet „Peer“ von The Instrument, eine extrem reduzierte und entschleunigte zeitgenössische Tanzversion von Hendrik Ibsens dramatischem Gedicht „Peer Gynt“ und Edvard Griegs gleichnamiger Schauspielmusik. Elektronisches Grillenzirpen und Ästeknacken. Peer (Janne Aspvik) und Solveig (Maya M. Carroll) hat es (originalgetreu) in den Wald verschlagen. Und hier sollen sie bleiben. Kein Höher, kein Schneller, kein Weiter für Peer. Ein Leben in Walden, mit Zweisamkeit. Aber die Idylle trügt. Auch bei The Instrument gibt es Tote und Narzissten samt toter Narzissen. In einer sich wiederholenden, präzise ausgeführten und abstrakten Bewegungsabfolge werden in lässiger Pose emotional entleerte Motive der Zärtlichkeit und gegenseitigen Fürsorge gezeigt. Und da lauert auch schon der Gegensinn: Tasten Aspvik und Carroll als Peer- und Solveig-Schablonen ihre Gesichter ab, um sich sanft zu berühren oder sind sie beide erblindet, gar blind für die Liebe des anderen? (Die Original-Solveig ist altersblind, als Peer zu ihr zurückkehrt.) Wenn Roy Caroll (endlich) Griegs „Morgenstimmung“ einspielt und dabei enorm verlangsamt (das Warten der Solveig im Original!), wird nicht nur ein Klischee aus der Bierwerbung bedient. Bei Caroll klingt die Größenwahnerwachungs-Musik („Kaiser werden, Kaiser in aller Welt!“) dumpf und bedrohlich, wie ein Grollen aus der Ferne – Weltuntergangsstimmung. Hierzu passen nicht zuletzt, als weitere Puzzleteile des neuen „Peer“, dessen Verhältnis zur Natur letztendlich ein entwurzeltes ist: der imaginäre (verseuchte) Teich über dem Maya-Solveig kniet, der wie tot dahinterliegende Janne-Peer sowie der in der Mitte der Bühne liegende Ast, den Janne-Peer zuvor baumesschwer in Zeitlupe gegen den Uhrzeigersinn dreht – Oh ewiger Kreislauf von Werden und Vergehen!