A sort of time warp on the future of dance ©Katja Vaghi

Wie wär´s mit einem Time-Warp-Dance?

Mitten in der zweiten Welle und kurz vor Jahresende und dem Ende meiner Zeit beim tanzschreiber möchte ich ein paar Gedanken zum Thema Tanz/Darstellende Künste in Zeiten der erzwungenen Digitalisierung festhalten. Je länger wir im Lockdown zuhause sitzen, desto gravierender werden die Folgen sein. Positiv war, dass uns allen die Augen geöffnet wurden, dass es möglich ist, Menschen an den verschiedensten Orten der Welt zusammenzubringen, und dass gefordert wurde, Tanzkonzepte neu zu überdenken. Negativ ist, dass wir alle uns nach Berührungen oder einem stabilen (wirtschaftlichem/Arbeits-) Umfeld sehnen. Ich möchte mich nun etwas genauer mit drei Elementen der Tanzproduktion beschäftigen – Konzeption, Ästhetik und Realisierung – und eine Art Sprung in die Zukunft des Tanzes und der Tanzpädagogik wagen.

Fangen wir mit der Konzeption an: Sie war der erste Aspekt der Tanzproduktion, der sich drastisch verändert hat. Von den Arbeitsbedingungen – „Wie organisiert man Online-Proben/-Unterricht?“ – über Inspirationsquellen – die Beschäftigung mit Werken von Künstler*innen, die bereits digital aktiv waren oder die Umstellung leichter bewerkstelligten – bis hin zu Künstler*innen, Probenleiter*innen, Residenzen und Programmplaner*innen – sie alle mussten sich erst klarmachen, wie sich im eigenen Arbeitsumfeld eine gewisse Kontinuität herstellen lässt. Große Theater mit mehr finanziellen Mitteln konnten mit teuren Techniken experimentieren. So konnte beispielsweise mit einer völlig neuen VR-Technik namens Varjo und Zoan an der Finnischen Nationaloper bzw. beim Finnischen Nationalballett das Bühnenbild mit nur einem Klick verändert werden. Oder Gilles Jobin und seine Kompanie präsentierten ihr System, mit dem Bewegungen verfolgt werden und das mithilfe eines speziellen Trainingsanzugs eine Zusammenarbeit in Echtzeit ermöglicht. Aber wie sieht es mit den kleineren Kompanien und den unabhängigen Künstler*innen aus? Dies führt natürlich zu der Diskussion, die mit der Politik von Mitteln verbunden ist – „wer hat Zugang zu was?“ – die, wie es bei den meisten aktuellen Finanzhilfen der Fall ist, eine Art Überbrückung darstellt, beispielsweise der digitale Pitch des Programms Tanzland. Das mag ein heikles Thema sein, aber sich nicht damit zu befassen, wo die Gelder hingehen, wäre gleichbedeutend damit, die Augen vor der Realität zu verschließen. Natürlich wurden auch „technologiearme“ Lösungen gefunden wie Tonspuren für einzelne Schritte oder Übungen. Aber das Ziel scheint nach wie vor darin zu bestehen, dem Publikum immersive Erlebnisse zu ermöglichen.

Das zweite Element ist die Ästhetik, und zwar in dem Sinne der Art von Ästhetik, die in diesem begrenzten Moment/System geschaffen wird. Man wird mir größtenteils zustimmen, dass in dieser Zeit eine bestimmte ästhetische Antwort entstehen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Art und Weise, wie sich das gesamte institutionelle System angemessen umstellen wird. Hier sei ein triviales Beispiel genannt: Heute ist es entscheidend, dass zwischen Tänzer*innen und Publikum ein gewisser Abstand besteht. Wann wird das nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern eine eigene choreografische Entscheidung sein, die nicht von den Umständen vorgegeben wird? Seit langem schon ist Screendance auf dem Vormarsch, nun werden noch weitere Konzepte ausprobiert. Ästhetik und ästhetische Entscheidungen hängen auch mit dem verwendeten Mittel zusammen und somit in gewisser Weise auch mit dem Sinn, der durch diese Technik in den Mittelpunkt gestellt wird. Geht man davon aus, dass mit jeder Technik die Möglichkeiten meist eines Sinnes erweitert werden sollen, wird das Ergebnis von den Medien bestimmt, mit denen wir arbeiten. Welchen Sinn möchten wir stärken: das Sehen oder das Hören, den kinästhetischen oder den haptischen Aspekt? Daran sind aber gewissermaßen auch alle anderen Sinne beteiligt bzw. werden davon beeinflusst, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob dies von den Künstler*innen bereits berücksichtigt wurde. Die Kompanie Punchdrunk, die für ihre immersiven Arbeiten bekannt ist, hat zum Beispiel mit The Third Day ein Format konzipiert, bei dem die jeweilige Darbietung auf einer abgelegenen britischen Insel mit einer Kamera in einem einzigen Take per Live-Stream verfolgt wird. Entsteht bei diesem Live-Stream ein stärkerer Eindruck, wenn man Jude Law, der bei diesem Projekt mitmacht, ganz aus der Nähe sieht, oder ist dies nur technischer Schnickschnack? Man kann sich auch fragen, wie interaktiv man mit dem Publikum arbeiten möchte. Bei den früheren Experimenten herrschte wahrscheinlich mehr Distanz, und wurden beim Screendance mehr Experimente gemacht, aber mit mehr Zeit zum Nachdenken, konnten die Künstler*innen mit anderen interessanten Lösungen abseits der der „passiven“ Beobachter*innen aufwarten. Hier wird zu einer anderen Art der Wahrnehmung, der kinästhetischen Empathie angeregt, und mir wird klar, dass die Möglichkeiten immer vielfältiger werden, wenn es uns wieder möglich sein wird, (im Theater) zu einigen der Formen vor der Pandemie zurückzukehren. Und so kommen wir zu meinen Gedanken über die Realisierung dieser Werke.

Zur Realisierung bzw. dazu, wie und wo wir Tanz erleben: Wird dies nur auf unserem privaten PC sein, werden wir unsere Telefone mit einer Art AR-Code nutzen oder dürfen wir wieder Installationen besuchen? Ich begrüße die Initiative größerer Institutionen, die dadurch, dass sie Material ins Internet gestellt haben, dafür gesorgt haben, dass der Tanz und das, was in der Szene geschah/geschieht, weiterhin Beachtung finden. Aber laufen wir nicht Gefahr, uns in dem Kaninchenbau des Bildschirms zu verlieren? In hoffentlich naher Zukunft wird es wieder Festivals mit hybriden Formaten geben, bei denen Live-Vorführungen, hybride Tanzdarbietungen und komplett digitale Aufführungen stattfinden. Außerdem gibt es das Problem, dass vergängliche Formen wie die Performance von Lina Gómez im Rahmen ihrer Residenz im Radialsystem, über die ich kürzlich schrieb, in Zeiten des Lockdowns ungewollt archiviert werden. Vielleicht wird dies ja die Abneigung der Choreograph*innen gegenüber der Archivierung ändern. Das andere Problem ist, wie sich ein Einkommen für die Beteiligten realisieren lässt. Es können nicht alle Angebote kostenlos sein. Dennoch können die Anstrengungen, die für die Einrichtung einer Art Online-Shop nötig sind, für viele Künstler*innen bereits zu viel sein. Viele von ihnen haben sich für ihren Beruf entschieden, weil sie im Bereich des Greifbaren, der Körper und ihrer Masse, der physischen Anstrengungen und des Schweißes bleiben wollten. Wie kann dies in die digitale Welt übersetzt werden? Kann und sollte es überhaupt übersetzt werden?

Dies bringt mich zum letzten Aspekt: der Pädagogik bzw. der Frage, wie wir die jungen Tänzer*innen der Zukunft ausstatten sollten. Zunächst findet die erste Erfahrung der Studierenden mit Tanz oft nicht im Rahmen einer Live-Aufführung auf der Bühne, sondern bereits in den Medien bei YouTube oder anderen sozialen Medien statt. Auch die Arbeitsweise hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert: Mit einfachen Aufnahmegeräten kann man sich eine Probe unkompliziert noch einmal ansehen und die eigenen Ergebnisse überprüfen. Die junge Generation ist technisch bereits viel versierter als ich. Brauchen wir im Lehrplan ein Modul zum Thema digitale Tanzkonzepte? Wenn man sich die Arbeiten der Studierenden des HZT Berlin ansieht, stellt man fest, dass die meisten sich für eine Videoaufzeichnung ihrer Arbeiten entschieden haben. Sollten tanzpädagogische Einrichtungen ihre Studierenden der digitalen Technik aussetzen, um sie auf ihre Karriere als Tänzer*innen vorzubereiten, und ihnen beispielsweise die Software Isadora näherbringen, mit der man interaktive digitale Performances erstellen kann und die von vielen jungen Künstler*innen in Berlin (und weltweit, da die Grundlagen an mehreren Hochschulen vermittelt werden) genutzt wird? Und wenn ja, welche der vielen Möglichkeiten sollten vermittelt werden: grüner Hintergrund, Bewegungserfassung, VR, AR, Screendance etc.?

Der Tanz und die Darstellenden Künste werden ihre kreativen Ideen weiterentwickeln und dabei die in der Pandemie gewonnenen Erkenntnisse berücksichtigen. Die Veränderungen wird man auf allen Ebenen der Tanzproduktion sehen können: vom Beginn des kreativen Abenteuers über seine Form bis hin zu seinem Ergebnis, aber auch daran, wie die Tänzer*innen auf die Zukunft vorbereitet werden. Über den Tanz in Zeiten der Pandemie zu schreiben, war eine große Herausforderung und zugleich eine Bereicherung. Es ist ein Geist des Engagements für das Überleben der Gruppe entstanden. Ich hoffe sehr, dass dieser Geist erhalten bleibt. Einerseits, weil die Pandemie noch nicht vorbei ist, andererseits, weil es beim Tanz viel gab/gibt, was verbessert werden muss, und Geschlossenheit hier helfen kann.


Anmerkung: Erstveröffentlichung dieses Artikels „What about a Time Warp Dance?“ von Katja Vaghi auf tanzschreiber.de, 17.12.2020 im englischen Original. Die deutsche Übersetzung „Wie wär´s mit einem Time-Warp-Dance?“ entstand im Rahmen der Veröffentlichung auf EPALE | Electronic Platform for Adult Learning in Europe, 23.04.2021.