Kris Pourzal in Costume ©Inky Lee
Kris Pourzal in Costume ©Inky Lee

Ein Puzzle in Bewegung

Wenn die Corona-Pandemie die Bewegungsfreiheit einschränkt, reist Inky Lee in ihrem Zimmer.

Sie sitzt allein in ihrem kalten Zimmer in Berlin, mitten im Covid-Lockdown, und erinnert sich daran, wie sie sich früher ungehindert durch verschiedene Städte bewegte. Der Titel von Ralph Lemons Performance How Can You Stay in the House All Day and Not Go Anywhere? kommt ihr in den Sinn und sie denkt: „Das stimmt. Es gibt so viele Möglichkeiten zu reisen, ohne meinen Körper wortwörtlich durch neue Orte zu bewegen.“

Als sie in Stadt A wohnte, fuhr sie überall mit dem Fahrrad hin, obwohl es eine riesige Wüste war, deren Einwohner*innen zumeist in Privatautos herumfuhren. Ihr Zimmer befand sich direkt neben Bahngleisen. Jede Nacht fuhren Güterzüge vorbei, was ihr ganzes Zimmer erschütterte, auch ihr Bett. Sie empfand das Rumpeln und Schaukeln aber als beruhigend. Es gab ihr das Gefühl, selber im Zug zu sitzen. „Wohin fahre ich heute Nacht?“, fragte sie sich im Halbschlaf und lächelte. Heutzutage ist das Schreiben der Zug, mit dem sie in die Ferne reist. 

Als Teenager lebte sie größtenteils in Stadt B, einer Stadt, die anscheinend für ihr ausgezeichnetes öffentliches Verkehrssystem bekannt ist. Jeden Tag musste sie mit einem kleinen Bus zur Schule zu fahren. Jeden Morgen zur Stoßzeit wollte eine riesige Menschenmenge um jeden Preis in diesen Bus steigen. Als sich der Bus näherte, fingen die wartenden Leute an, sich nervös gegeneinander zu drängen und mit den Ellbogen zu stoßen. Weil wir nie wussten, wo genau der Bus halten würde, wimmelten die wartenden Körper jedes Mal angespannt herum. Als der Bus endlich kam, anhielt und sich die winzige Tür öffnete, rannten alle hin und quetschten ihre Körper in diesen Kubus auf vier Rädern, als ginge es um ihr Leben. Die Fahrgäste stöhnten und schrien, ihre Körper stapelten sich, streckten Arme und Beine aus den Fenstern. Während dieser Busfahrten spürte sie oft harte Schwänze, die sich von hinten gegen sie drückten, und sie versuchte, sich wegzuwinden, aber es gab einfach keinerlei Platz. Wenn sie nicht in den Bus einsteigen konnte und deswegen verspätet in der Schule ankam, erwischten sie die Türwächter und befahlen ihr, sich flach auf den Bauch zu legen, woraufhin sie ihr mit einem langen, dicken Holzstock auf die Rückseite der Oberschenkel oder auf den Hintern schlugen. Diese Schläge hinterließen deutliche blaue Flecken, die sie auf der Toilette zum Spaß mit denen ihrer Freund*innen verglich. 

Als sie in die High School kam, wurden aus den täglichen Busfahrten lange Fahrten mit der U-Bahn. Sie musste um 7 Uhr morgens in der Schule sein, wo sie bis 22 Uhr blieb. Um dorthin zu gelangen, musste sie erst in einen Bus steigen und damit zur nächstgelegenen U-Bahn-Station fahren, von dort die gelbe U-Bahn-Linie nehmen und dann erst in die rosa Linie umsteigen, dann in die lila Linie und dann entweder einen weiteren Bus nehmen oder den Rest der Strecke zu Fuß laufen. Hin und zurück waren es jeweils mindestens zweieinhalb Stunden, deswegen verbrachte sie mehr Zeit in den öffentlichen Verkehrsmitteln als zu Hause. Selbstverständlich kam es dabei zu vielen seltsamen Episoden und Begegnungen. Über die Jahre prägten sich die Routen in ihr motorisches Gedächtnis ein; dennoch kam es hin und wieder dazu, dass sie impulsiv in die falsche U-Bahn-Linie umstieg und an einer unbekannten Station ausstieg.

Die blaue Linie führte zur Wohnung ihrer Oma; die kakifarbene Linie führte zu einem malerischen Flusspark, den sie entdeckt hatte und der in stressigen Zeiten zu ihrem Rückzugsort wurde. Auf den Schleifen der grünen Linie konnte sie die Augen schließen und endlos weiterfahren. Gelegentlich wachte sie auf und merkte, dass ihr Kopf auf der Schulter einer fremden Person lag. Andersherum ließen auch viele fremde Personen beim Schlafen den Kopf auf ihre Schultern fallen, sogar auf ihren Schoß. Viele müde Menschen schleppten pflichtbewusst ihre Körper auf diese Züge, die sich wie Würmer unter den Straßen der Stadt bewegten, und dösten ein. Hin und wieder sah sie betrunkene Menschen, die im engen Raum zwischen zwei U-Bahn-Wagen ihren Rausch ausschlafen wollten.

Sie liebte es, die vielfältig schönen Menschen in den U-Bahnen von Stadt C heimlich zu beobachten. Eine befreundete Person, D., die ebenfalls in Stadt C lebte, und sie hatten vereinbart, schöne Menschen im öffentlichen Raum zu fotografieren und sich die Fotos zu schicken. Eines Tages folgte D. einer fremden Person, weil diese außerordentlich schön war. D. berichtete, dass diese Person sich anscheinend verirrt hatte, da sie ständig auf ihr Telefon schaute und sich umblickte, woraufhin D. die Verfolgung schließlich aufgab. 

In Stadt C fuhr die Bahn rund um die Uhr. Aber wegen der vielen Verspätungen und Zugausfälle ohne weitere Erklärungen waren das Engagement und die Existenz der Bahn zweifelhaft, was manchmal auch sie dazu brachte, ihre eigene Existenz zu bezweifeln. Nach einem langen Arbeitstag im Café stand sie in einer überfüllten Bahn und starrte ihre Handrücken und deren trocken gähnende Risse an, als sie plötzlich das mystische Flüstern einer fremden Person hörte, die sie fragte: „Was siehst du?“ 

Was sah sie?

In Stadt C sah sie überall Ratten. Sie schienen fest an in ihre eigene Existenz zu glauben, rannten lebhaft auf den Bahngleisen herum. Sie beobachtete sie immer, während sie verzweifelt auf die Bahn wartete. Sie fühlte sich, als sei sie eine von ihnen; wie sie wieselte sie durch die Stadt und versuchte zu existieren. Wenn ihr alles zu viel wurde, fuhr sie mit der Linie F bis zur Endhaltestelle am Ozean. 

„Oh, Bahn, komm doch bitte. Linie A oder C, A oder C“, stand in einem Brief, den sie eines Tages erhielt. Im nächsten Brief stand: „Es war A.“ E. schrieb diese Briefe, als sie mitten in der Nacht in Stadt C versuchten, zu ihr nach Hause zu fahren. Ein Hauch verworrener Romantik, die sich meist in Fahrzeugen abspielte. Sie hatten sich in E.s Auto kennengelernt, als E. ihr angeboten hatte, ihr Fahrunterricht zu geben. In Stadt A fuhren sie jeden Tag in E.s Auto stundenlang auf Parkplätzen im Kreis herum, bis sie einen Unfall hatte und kurz darauf nach Stadt C wegzog. E. packte die kaputten Autoteile kunstvoll ein und schickte sie per Post zu ihr nach Hause. Sie wusste nicht, was sie mit ihnen anfangen sollte. Nach einigem Überlegen klebte sie Haare, die ihr verschiedene Leute gegeben hatten, an die Autoteile und machte daraus Kostüme. Als E. beschloss, in Stadt C zu ziehen, flog sie zurück in Stadt A, und sie fuhren gemeinsam quer durchs Land. Unterwegs stießen sie unerwartet auf einen starken Wirbelsturm. Sie gerieten in die Flut der flüchtenden Anwohner*innen und fuhren auf der Suche nach einem Platz zum Schlafen immer weiter.

Kris Pourzal in Costume ©Inky Lee

Von der endlosen Bewegung wird ihr übel. Sie wird älter (von Weitem hört sie donnerndes Gelächter); sie sollte an einem Ort bleiben. Oder sie muss selbst zur Bewegung werden, damit ihr nicht schlecht wird. 

Schließ die Augen.

Spür, wie es sich anfühlt, Bewegung zu sein.

Ein Szenenwechsel.

Sie ist auf einem Roadtrip mit einer fremden Person, F., die sie gerade in Stadt G, in die sie gereist war, kennengelernt hat. Sie reisen horizontal durch Land H, überqueren die Grenze zu Land I und kehren dann zurück in Stadt G. Auch wenn es sehr kalt und windig ist, rennen sie ins Meer, um ihre Körper zu waschen. Im Wasser rufen sie laut, sie schreien. 

Sie sitzen vor dem großen See in Stadt J, wo sie an diesem Tag einen Zwischenstopp einlegen. Die fliegenden Möwen kämpfen gegen den starken Wind. Außer ihnen ist niemand dort. Es ist kalt. 

„Glaubst du an Wiedergeburt?“, fragt F. 

„Nein“, antwortet sie. 

„Wenn du aber daran glauben würdest, was wärst du?“, fragt F.

„Der Wind“, antwortet sie. 

„Aber wäre es nicht sehr einsam, der Wind zu sein?“, fragt F.

„Überhaupt nicht. Ich würde herumfliegen und mit Blättern, dem Meer, den Haaren von Leuten spielen … Ich würde ihre Haut berühren und in ihren Ohren herumwirbeln … Ich würde frei sein“, antwortet sie. 

Sie öffnet die Augen.

Ein starker Wind fegt über den Strand und wirbelt eine feine Sandschicht auf, der zischt wie viele weiße Schlangen. Sie sind wandernde Seelen im Wind; sie bewegen sich schnell in geschwungenen Linien, um in den Wellen auf die anderen Linien zu treffen.

Gemeinsam stürzen sie sich ins Wasser und reiten, eine kurze Zeit lang, leise aufeinander.


Deutsche Übersetzung von Nine Yamamoto-Masson